12 - Wer die Wahrheit sucht
leicht erschreckenden Geste wissen lassen, dass eine von ihnen beiden eine gewisse Stellung in dieser Familie innehatte und die andere ganz entschieden nicht. Danach ging sie, eine Wolke Chanel 5 hinter sich herziehend. Zu früh am Tag für so einen Duft, dachte Ruth. Aber so etwas merkte Margaret natürlich nicht.
»Ich hätte bei ihm sein müssen«, sagte Anaïs mit erstickter Stimme, nachdem sich die Tür hinter Margaret geschlossen hatte. »Ich wollte bleiben, Ruthie. Seit es passiert ist, denke ich unaufhörlich, wäre ich nur die Nacht geblieben, ich wäre am Morgen mit ihm zur Bucht hinuntergegangen. Nur um ihm zuzusehen. Es war so eine Freude, ihm zuzusehen. Und... O Gott, o Gott, warum musste das geschehen?«
Warum gerade mir?, meinte sie, auch wenn sie es nicht sagte. Ruth war nicht so leicht etwas vorzumachen. Sie hatte zu lange miterlebt, wie ihr Bruder mit seinen Frauen umgegangen war, um nicht mittlerweile genau sagen zu können, an welchem Punkt seines ewigen Spiels von Verführung, Ernüchterung und Rückzug er jeweils angelangt war. Zum Zeitpunkt seines Todes war Guy mit Anaïs Abbott praktisch fertig gewesen. Wenn er es Anaïs nicht direkt gesagt hatte, so hatte diese es zweifellos mehr oder weniger deutlich gespürt.
Ruth sagte: »Komm, setzen wir uns. Soll ich Valerie bitten, uns Kaffee zu machen? Jemima, Kind, möchtest du etwas haben?«
Jemima antwortete zögernd: »Hast du was da, was ich Biscuit geben kann? Er ist vor dem Haus. Er wollte heute Morgen nicht fressen, und -«
»Aber Entchen«, unterbrach ihre Mutter sie. Der Tadel war durch ihren Gebrauch von Jemimas Kindernamen offenkundig, die zwei Wörter sagten alles, was Anaïs nicht aussprach: Kleine Mädchen interessieren sich für ihre Hündchen. Junge Frauen interessieren sich für junge Männer. »Der Hund wird schon nicht verhungern. Es wäre besser gewesen, du hättest ihn zu Hause gelassen, wo er hingehört.
Und wie ich dir gesagt habe. Wir können von Ruth nicht verlangen -«
»Entschuldige!« Jemima schien zu glauben, ihre Erwiderung sei heftiger ausgefallen, als sich das in Ruths Beisein gehörte, denn sie senkte augenblicklich den Kopf und zupfte mit der einen Hand an der Naht ihrer langen Hose aus gediegenem Wollstoff. Sie war nicht wie ein gewöhnlicher Teenager gekleidet, das arme Mädchen, und schuld daran waren ein Kurs an einer Londoner Modelschule, den sie im Sommer besucht hatte, sowie der wachsame Blick ihrer Mutter, die es völlig in Ordnung fand, im Kleiderschrank ihrer Tochter herumzukramen. Sie sah aus wie ein Model aus der Vogue. Aber auch wenn sie gelernt hatte, sich zu schminken, ihre Haare zu stylen und sich auf dem Laufsteg zu bewegen, war sie die linkische Jemima geblieben, das Entchen ihrer Mutter und in der Tat so tollpatschig wie ein Küken, das nicht ins Wasser darf.
Ruth, der das junge Mädchen Leid tat, sagte: »Dieser niedliche kleine Hund? Er ist wahrscheinlich todunglücklich ganz allein da draußen, Jemima. Möchtest du ihn hereinholen?«
»Unsinn«, sagte Anaïs. »Dem Hund geht es gut. Er ist zwar taub, aber seinen Augen und seiner Nase fehlt nichts. Er weiß genau, wo er ist. Lass ihn draußen.«
»Ja. Natürlich. Aber vielleicht mag er ein bisschen Hackfleisch. Es ist auch noch ein Rest Auflauf von gestern Mittag da. Geh in die Küche, Jemima, und lass dir von Valerie etwas davon geben. Du kannst es in der Mikrowelle warm machen, wenn du willst.«
Jemima hob den Kopf, und der Ausdruck in ihrem Gesicht freute Ruth mehr, als sie erwartet hatte. »Wenn es okay ist...?«, sagte das junge Mädchen mit einem Blick zu ihrer Mutter.
Anaïs war klug genug, zu wissen, wann es sinnvoller war, nachzugeben. Sie sagte: »Ach, Ruthie, das ist lieb von dir. Wir wollen dir wirklich nicht zur Last fallen.«
»Das tut ihr auch nicht«, erwiderte Ruth. »Lauf schon, Jemima. Lass uns zwei alte Mädchen ein bisschen schwatzen.«
Sie hatte den Ausdruck »alte Mädchen« nicht herabwürdigend gemeint, aber als Jemima ging, sah sie, dass er so angekommen war. Bei dem Alter, zu dem sich Anaïs bekannte - sechsundvierzig -, hätte sie Ruths Tochter sein können. Sie scheute auch keine Mühe, um tatsächlich so auszusehen. Denn sie wusste besser als die meisten Frauen, dass ältere Männer sich von weiblicher Jugend und Schönheit ebenso angezogen fühlten, wie weibliche Jugend und Schönheit sich häufig und zweckmäßigerweise von Männern mit den Mitteln zur Erhaltung dieser Attribute angezogen fühlten. Das
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