12 - Wer die Wahrheit sucht
Alter spielte weder im einen noch im anderen Fall eine Rolle. Aussehen und Geld waren alles. Jedoch vom Alter zu sprechen, das war ein Fauxpas gewesen. Aber Ruth unternahm keinen Versuch, sich für den Ausrutscher zu entschuldigen. Sie trauerte um ihren Bruder. Da musste man ihr dergleichen nachsehen.
Anaïs trat zu dem Ständer mit der Stickerei und betrachtete das jüngste Bild des Gesamtwerks.
»Das Wievielte ist das?«, fragte sie.
»Nummer fünfzehn, glaube ich.«
»Und wie viele kommen noch?«
»So viele, wie nötig sind, um die ganze Geschichte zu erzählen.«
»Alles? Auch Guys - Ende?« Anaïs hatte stark gerötete Augen, aber sie weinte nicht mehr, und Ruth hatte den Eindruck, dass sie ihre eigene Frage nutzte, um zum Anlass ihres Besuchs in Le Reposoir überzuleiten. »Jetzt ist alles anders, Ruth. Ich mache mir Sorgen um dich. Wirst du denn zurechtkommen?«
Einen Moment lang glaubte Ruth, sie spräche von ihrer Krebskrankheit und der Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Tod. Sie sagte: »Ich denke, ich werde es schon schaffen.« Aber Anaïs befreite sie sofort aus dem Irrtum, sie sei gekommen, um ihr für die kommenden Monate Obdach, Pflege oder auch nur seelische Hilfe anzubieten.
Sie sagte nämlich: »Hast du das Testament schon gelesen, Ruthie?« Und als wüsste sie im Grunde genau, wie vulgär diese Frage war, fügte sie hinzu: »Konntest du dich vergewissern, dass du versorgt bist?«
Ruth antwortete der Geliebten ihres Bruders das Gleiche, was sie zuvor seiner geschiedenen Frau geantwortet hatte. Es gelang ihr, ruhig zu bleiben, obwohl sie die andere Frau am liebsten mit aller Schärfe darüber aufgeklärt hätte, wem es zustand, sich für die Verteilung von Guys Vermögen zu interessieren, und wem nicht.
»Oh.« Anaïs' Ton machte ihre Enttäuschung deutlich. Keine Testamentseröffnung bedeutete Ungewissheit darüber, ob, wann und wie sie die vielfältigen Ausgaben würde decken können, die sie seit der Begegnung mit Guy gehabt hatte, um sich jung zu erhalten. Es bedeutete auch, dass die Wölfe der Nobelvilla, die sie mit ihren Kindern am Nordende der Insel, in der Nähe der Bucht Le Grand Havre bewohnte, näher rückten. Ruth hatte von Anfang an vermutet, dass Anaïs Abbott weit über ihre Verhältnisse lebte. Finanzierswitwe oder nicht - mein Mann war Finanzier, wer wusste überhaupt, was das hieß in diesen Zeiten des rapiden Aktienverfalls und der taumelnden Finanzmärkte. Er konnte natürlich ein Finanzgenie gewesen sein und das Geld anderer Leute vermehrt haben wie Jesus die fünf Brote vor den Hungrigen, oder ein Investmentbroker, der aus fünf Pfund fünf Millionen machen konnte, wenn man ihm nur genug Zeit ließ und das nötige Vertrauen entgegenbrachte. Er konnte aber auch nichts weiter als ein kleiner Angestellter bei der Barclay's Bank gewesen sein, dessen Lebensversicherung es der trauernden Witwe erlaubt hatte, sich in höheren Kreisen als denen zu bewegen, in denen sie durch Geburt und Heirat zu Hause war. Auf jeden Fall brauchte man, um in diese Kreise hineinzukommen und in ihnen zu verkehren, eine Menge Geld: für das Haus, die Kleidung, den Wagen, die Urlaubsreise. ganz zu schweigen von alltäglichen Bedürfnissen wie essen und trinken. Es war daher anzunehmen, dass Anaïs Abbott sich mittlerweile in ernsthaften finanziellen Nöten befand. Sie hatte in ihre Beziehung mit Guy einiges investiert. Damit diese Investition sich für sie lohnte, hätte Guy am Leben bleiben und den Hafen der Ehe mit ihr ansteuern müssen.
Ruth empfand zwar eine gewisse Aversion gegen Anaïs Abbott, weil sie überzeugt war, dass die Frau von Anfang an nach Plan gearbeitet hatte, aber sie wusste auch, dass man ihre Machenschaften wenigstens teilweise entschuldigen musste. Guy hatte sie ja in der Tat glauben lassen, dass eine Heirat möglich wäre, eine schöne gesetzliche Trauung. Hand in Hand vor einem Geistlichen oder einige Minuten lächelnden Errötens auf dem Standesamt. Dass Anaïs aus Guys Großzügigkeit gewisse Schlüsse gezogen hatte, war verständlich. Ruth wusste, dass er es gewesen war, der Jemima nach London geschickt hatte, und sie hatte kaum Zweifel daran, dass er auch der Grund dafür gewesen war, dass Anaïs' Brüste sich heute wie zwei feste, vollkommen symmetrische Honigmelonen vor einem Brustkorb wölbten, der von Natur aus eigentlich zu schmächtig für sie war. Aber war das alles bezahlt? Oder stand die Bezahlung noch aus?
Das war die Frage. Die Antwort ließ nicht
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