12 - Wer die Wahrheit sucht
lange auf sich warten.
Anaïs sagte: »Er fehlt mir, Ruth. Er war - du weißt, ich habe ihn geliebt. Du weißt, wie sehr ich ihn geliebt habe.«
Ruth nickte. Der Krebs, der langsam ihr Rückgrat auffraß, forderte ihre Aufmerksamkeit. Mehr als nicken konnte sie nicht, wenn der Schmerz da war und sie sich darauf konzentrierte, ihn zu beherrschen.
»Er war alles für mich, Ruth. Mein Fels in der Brandung. Der Mittelpunkt meines Lebens.« Anaïs senkte den Kopf. Einige Löckchen stahlen sich unter ihrem kleinen Hut hervor und lagen wie die Spuren einer männlichen Liebkosung auf ihrem Nacken. »Er hatte eine ganz eigene Art, mit den Dingen umzugehen... seine Ideen... das, was er getan hat... Wusstest du, dass es seine Idee war, Jemima nach London auf die Modelschule zu schicken? Wegen der Selbstsicherheit, sagte er. Das war typisch Guy. Er war so voller Liebe und Großzügigkeit.«
Ruth nickte wieder, fest in der Umklammerung des Schmerzes. Sie presste die Lippen zusammen und unterdrückte ein Stöhnen.
»Es gab nichts, was er nicht für uns getan hätte«, fuhr Anaïs fort. »Der Wagen - die Kosten für seinen Unterhalt - der Pool im Garten. Immer war er für uns da, immer bereit, zu helfen und zu geben. Ach, er war ein wunderbarer Mensch. Ich werde nie wieder jemandem begegnen, der ihm auch nur nahe kommt... Er war so gut zu mir. Und jetzt ohne ihn...? Mir ist, als hätte ich alles verloren. Hat er dir erzählt, dass er in diesem Jahr Schuluniformen gestiftet hat? Nein, natürlich nicht. Er hat nicht darüber gesprochen, weil er den Stolz der Menschen nicht verletzen wollte, denen er geholfen hatte.
So war er. Er hat sogar. Ruth, dieser unendlich gute, liebenswerte Mensch hat es sich nicht nehmen lassen, mir einen monatlichen Zuschuss zu geben. ›Du bedeutest mir so unvorstellbar viel, und ich möchte, dass du mehr bekommst, als du selbst geben kannst.‹ Ich habe ihm gedankt, Ruth, immer wieder. Aber ich habe ihm nie genug gedankt. Und ich wollte, dass du erfährst, wie gut er war. Was er mir Gutes getan hat, um mir zu helfen. Ruth.«
Sie hätte ihr Anliegen nicht deutlicher machen können. Ruth fragte sich, wie weit diese Leute, die angeblich um ihren Bruder trauerten, in ihrer Geschmacklosigkeit noch gehen würden.
Aber sie sagte nur: »Danke dir für diese Würdigung Guys, Anaïs. Zu hören, dass du seine Güte zu schätzen wusstest...« Und er war gut, schrie Ruths Herz, er war die Güte selbst. »Es ist sehr lieb von dir, dass du hergekommen bist, um mir das zu sagen. Ich danke dir dafür. Du bist ein guter Mensch.«
Anaïs öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Sie holte sogar noch Luft, aber dann erkannte sie offenbar, dass es nichts mehr zu sagen gab. Sie konnte jetzt nicht rundheraus Geld verlangen, ohne taktlos und habgierig zu erscheinen. Und selbst wenn ihr das gleichgültig gewesen wäre, war sie wahrscheinlich nicht bereit, in nächster Zukunft das Image der finanziell unabhängigen Witwe aufzugeben, der eine erfüllte Beziehung wichtiger war als Geld. Zu lange schon lebte sie dieses Image.
Also sagte sie nichts mehr, und Ruth auch nicht, während sie zusammen im Damenzimmer saßen. Was hätte es auch noch zu sagen gegeben?
7
Im Lauf des Tages besserte sich das Wetter in London und erlaubte es den St. James' und Cherokee River, nach Guernsey zu fliegen. Sie erreichten die Insel am späten Nachmittag, und während sie über dem Flughafen kreisten, sahen sie unten im schwindenden Licht die dünnen grauen Bänder schmaler Straßen, die sich scheinbar planlos durch steinerne Dörfer und zwischen kahlen Feldern über das Land schlängelten. Das letzte Sonnenlicht funkelte auf dem Glas zahlloser Gewächshäuser im Landesinneren, und die laubfreien Bäume in den Tälern und an den Hängen der Hügel kennzeichneten jene Gebiete, die Winden und Stürmen weniger stark ausgesetzt waren. Es war von der Luft aus gesehen eine abwechslungsreiche Landschaft, die sich an Ost- und Südküste der Insel zu steilen Klippen auftürmte, und im Westen und Norden sanft zu stillen Buchten abfiel.
Um diese Jahreszeit machte die Insel einen verlassenen Eindruck. Im späten Frühjahr und im Sommer waren die verschlungenen Straßen von Urlaubern bevölkert, die die Strände, die Klippenwege oder die Häfen aufsuchten, Guernseys Kirchen, Schlösser und Festungen besichtigten, die wanderten, schwammen, Ausflüge mit Booten oder Fahrrädern machten und die Straßen und Hotels füllten. Doch im Dezember gab es auf der Insel
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