12 - Wer die Wahrheit sucht
gesprochen.«
»Und warum nicht?«, erkundigte sich Margaret.
»Wahrscheinlich, weil es dann Realität wird. Unabänderlich. Dem weiche ich noch aus.«
»Wäre es dir eine Hilfe, wenn ich mit dem Anwalt spräche? Ich nehme dir die Formalitäten gern ab, Ruth.«
»Danke dir, Margaret, das ist lieb von dir, aber ich muss das selbst in die Hand nehmen. Ich muss - und ich werde! Bald. Wenn - wenn es mir richtig erscheint.«
»Natürlich«, murmelte Margaret und sah zu, wie ihre ehemalige Schwägerin die Nadel von unten durch den Stoff schob und feststeckte, ein Zeichen, dass sie für den Moment mit ihrer Arbeit fertig war. Sie bemühte sich, die Anteilnahme in Person zu sein, aber innerlich konnte sie es nicht erwarten, zu erfahren, wie ihr geschiedener Mann sein ungeheures Vermögen aufgeteilt hatte. Vor allem wollte sie wissen, ob er an Adrian gedacht hatte. Lebend hatte er seinem Sohn das Geld verweigert, das dieser für sein neues Geschäft brauchte, aber mit seinem Tod musste er ihm doch endlich geben, was er ihm bis dahin versagt hatte. Und das würde Carmel Fitzgerald und Adrian wieder zusammenbringen. Adrian würde endlich heiraten und ein normaler Mann werden, der ein normales Leben führte, ohne seltsame Vorkommnisse, derentwegen man sich sorgen musste.
Ruth war zu einem kleinen Sekretär getreten und hatte einen zierlichen Schattenfugenrahmen in die Hand genommen. In ihm eingeschlossen war die Hälfte eines Medaillons, die sie wehmütig betrachtete. Es war, wie Margaret sah, dieses alberne Abschiedsgeschenk, das Maman den Kindern am Bootshafen übergeben hatte. Je vais conserver l 'autre moitié, mes chéris. Nous le reconstituerons lorsque nous nous retrouverons.
Ja, ja, schon gut, hätte Margaret gern gesagt. Ich weiß, dass sie dir fehlt, aber wir haben was zu erledigen.
»Früher ist besser als später, meine Liebe«, sagte sie behutsam. »Du solltest mit ihm sprechen. Es ist doch recht wichtig.«
Ruth stellte den Rahmen wieder weg, ohne jedoch den Blick von ihm zu wenden. »Ganz gleich, mit wem ich spreche, es wird nichts ändern«, sagte sie.
»Aber es wird Klarheit schaffen.«
»Wenn Klarheit notwendig ist.«
»Nun, du musst doch wissen, wie er sein - na ja, was er wünschte. Das musst du doch wissen. Bei einem Nachlass, der so groß ist wie seiner, heißt gewarnt sein gewappnet sein, Ruth. Sein Anwalt würde mir da sicher zustimmen. Hat er sich übrigens schon bei dir gemeldet? Der Anwalt, meine ich. Er muss schließlich wissen...«
»O ja. Er weiß es.«
Und?, dachte Margaret. Aber sie sagte beschwichtigend: »Ah ja, ich verstehe. Nun, alles zu seiner Zeit, meine Liebe. Wenn du dich dazu bereit fühlst.«
Hoffentlich bald, dachte sie. Sie wollte nicht länger als unbedingt nötig auf dieser infernalischen Insel bleiben müssen.
Dies eine wusste Ruth Brouard über ihre ehemalige Schwägerin: Ihre Anwesenheit in Le Reposoir hatte mit ihrer gescheiterten Ehe mit Guy, mit Schmerz oder Bedauern über die Art und Weise ihrer Trennung oder mit Respekt vor seiner Person nichts zu tun. Die Tatsache, dass sie bisher nicht das mindeste Interesse an der Frage gezeigt hatte, wer Guy ermordet hatte, verriet Ruth klar und deutlich, worum es ihr wirklich ging. Überzeugt, dass Guy Geld wie Heu gehabt hatte, war sie entschlossen, sich ihren Anteil zu holen. Wenn nicht für sich selbst, so auf jeden Fall für Adrian.
Rachsüchtiges Luder, hatte Guy sie genannt. Sie hat ein Arsenal von Ärzten, die bereit sind, zu bestätigen, dass er zu labil ist, um sich anderswo als bei seiner verdammten Mutter aufzuhalten, Ruth. Sie macht den armen Jungen völlig kaputt. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hatte er am ganzen Körper einen Nesselausschlag. Ich bitte dich. In seinem Alter! Sie ist wirklich verrückt.
So war es Jahr für Jahr gewesen, Ferienbesuche wurden vorzeitig abgebrochen oder ganz abgesagt, bis Guy seinen Sohn schließlich nur noch im Beisein seiner geschiedenen Frau sehen durfte. Sie überwacht uns, hatte Guy wütend berichtet. Wahrscheinlich, weil sie genau weiß, dass ich ihn sonst so lange bearbeiten würde, bis er endlich die Nabelschnur durchtrennt - wenn nötig mit einer Axt. Dem Jungen fehlt nichts, was sich nicht durch ein paar Jahre an einer anständigen Schule in Ordnung bringen ließe. Und ich meine damit nicht eines dieser Gelobt-sei-was-hart-macht-Internate mit eiskalten Duschen und Prügelstrafe. Ich spreche von einer modernen Schule, wo er Selbstständigkeit erfahren würde,
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