120, rue de la Gare
und Zeitschriften, quer durch den Garten: Politische, literarische, ja sogar Mode- und Schönheitszeitschriften. Für diese reizenden Druckerzeugnisse habe ich nämlich eine gewisse Schwäche.
Den ganzen Vormittag verbrachte ich mit Lesen, während ich auf einen Anruf von Faroux wartete. Der Anruf kam nicht.
Aus der Zeitschrift Elégance, Beauté, Monde erfuhr ich, daß Dr. Dorcières ebenfalls aus der Gefangenschaft heimgekehrt war. Man hatte ihm den bürokratischen Kram, der im allgemeinen mit der Demobilisierung des „Fußvolkes“ verbunden war, erspart. Er war schon seit einigen Tagen wieder in Paris. Die Redaktion der Elegant-Schönen Welt war glücklich, ihren vornehmen Leserinnen berichten zu können, daß der berühmte Chirurg usw. usf. Ganz nebenbei veröffentlichte das Luxusmagazin die Adresse von Hubert Dorcières. Ich notierte sie mir. Vielleicht konnte er mir die Adresse von Desiles’ Frau geben.
Ich überflog noch die allgemeine und besondere Politik, die Kriegsberichterstattung, die Rubrik „Schwarzmarkt“ und die Kleinanzeigen. Seit zwanzig Jahren wartete ich auf die Anzeige: Monsieur Burma, Nestor wird gebeten, sich umgehend mit der Kanzlei des Notars Maître Tartempion wegen der Erbschaft eines Onkels aus Amerika in Verbindung zu setzen. Natürlich fand ich die Anzeige auch heute nicht und stapelte den gesamten Papierkram zu einem Wegwerf-Paket.
Inzwischen war es Mittag geworden. In einem meiner alten Prince-of-Wales-Anzüge (extravagant, aber nicht exzentrisch!) ging ich zum Mittagessen. Wieder zurück, sah ich die inzwischen überholte Post durch. Um zwei klingelte das Telefon. Nein, es war nicht Florimond Faroux. Von weit her drang die Stimme von Gérard Lafalaise an mein Ohr.
„Unser Freund hatte einen leichten Verkehrsunfall, der ihn für ein paar Tage außer Gefecht setzt“, berichtete der Detektiv. „Wurde von einem der wenigen Autos gestreift, die noch herumfahren.“
„Ist das nicht nur vorgetäuscht?“
„Nein. Ich werd Sie wieder anrufen, wenn’s ihm besser geht. Bei meinen Beziehungen kann ich das machen... falls es nicht zu häufig vorkommt.“
„Klar. Vielen Dank. Werd inzwischen meine Kräfte sammeln.“
Sofort danach rief ich in der Tour Pointue an und verlangte Inspektor Faroux.
„Wer spricht, bitte?“ fragte eine sachliche Stimme.
Ich nannte meinen Namen. Man bat mich, am Apparat zu bleiben. Nach einer Minute hörte ich die Stimme meines Freundes durch seinen Schnurrbart pfeifen.
„Sie haben Schwein“, sagte er. „Komm grade zurück und hau sofort wieder ab. Hatte bis jetzt keine Zeit, Sie anzurufen... Ja, ja, Ihre Nachricht hab ich erhalten.“
„Wo können wir uns treffen? Sagen wir, in etwa einer Stunde...“
„Unmöglich, mein Lieber! Nicht vor heute abend. Ich arbeite wie’n Verrückter. Keine Minute Pause. Ist doch nicht eilig, oder?“
„Hängt von Ihnen ab. Ich hoffe, Sie haben meinen Brief erhalten... den zweiten... den mit der Rue de Lyon...“
„Ja.“
„Gibt’s was Interessantes in dieser Richtung?“
„Nein. Würde sogar sagen, daß...“
„Ja, ja, schon gut. Ich kann warten. Werd den Nachmittag im Kino verbringen. Sollen wir uns um neun verabreden, bei mir zu Hause? ... Völlig unauffällig, ja. Paßt Ihnen das? ... Ja, geheizt ist auch. Die Heizung läuft über den Stromzähler meines Nachbarn.“
„Einverstanden. Hab den Eindruck, daß die Gefangenschaft Sie verändert hat. Sie sind so gesprächig...“
„Ja? Warten Sie’s ab! Jedenfalls wird Kommissar Bernier bald anderer Ansicht sein.“
„Kommissar Bernier? Wer ist das denn?“
„Einer Ihrer Kollegen in Lyon, der die Arbeitslosen beneidet. Setzt alles dran, um vorzeitig in den Ruhestand geschickt zu werden.“
„Und Sie lassen ihn auflaufen?“
„Na klar! Sie wissen doch, wie sehr ich die Flics mag!“
„Ich glaub, ich leg lieber auf“, sagte Faroux. „Wenn einer meiner Vorgesetzten das Gespräch hört... Also, bis heute abend!“
„Bis heute abend, Sie vorsichtige Porzellanmutter!“
Ich nutzte den freien Nachmittag, um meine früheren Mitarbeiter zu besuchen. Roger Zavatter war immer noch in Kriegsgefangenschaft. Jules Leblanc hatte noch mehr Pech gehabt: Er war tot. Zwischen diesen beiden, was das Pech anging, lag Louis Reboul. Gleich zu Beginn des „komischen Krieges“ hatte er an der Maginot-Linie den rechten Arm verloren.
Wir freuten uns sehr, uns wiederzusehen. Von Bob Colomers Tod sagte ich Louis noch nichts. Dieses Gesprächsthema hob
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