120, rue de la Gare
Parfüm in die Nase, das ich noch gut in Erinnerung hatte, und ihr Gesicht war immer noch genauso hübsch, trotz der fehlenden Chemie. Ihre großen, grauen Augen unter den schwarzen Brauen drückten Freude über das Wiedersehen aus.
„Kommen Sie rein“, sagte sie einladend. „Solche Überraschungen kann man nur mit Ihnen erleben. Ich umarme Sie in Gedanken...“
„Haben Sie Angst, ich könnte mich anstecken?“
„Mein Gott, sieht man das so deutlich?“ fragte sie erschrocken. „Aber es wäre außerdem nicht schicklich. Zumal wir jetzt in mein Schlafzimmer gehen...“
„Oh, das ist aber nett!“
„...weil das der einzige Raum ist, den ich heize. Nur keine falschen Schlüsse, Chef!“
Lachend gingen wir in ihr Krankenzimmer. Sie schob mir einen Stuhl hin und legte sich ins Bett unter eine warme Decke. Auf einem Hocker in Reichweite standen Medikamente neben einer Heizplatte mit einer Teekanne. Nein, Hélène war nicht mit einer vorgetäuschten Grippe zu Hause geblieben. Ihre heisere, verschnupfte Stimme war ein weiterer Beweis.
„Möchten Sie einen Tee?“ fragte sie. „Richtigen Tee..., und Rum hab ich auch. Allerdings müssen Sie sich selbst bedienen.“
Ich nahm dankend an. Sie schneuzte sich so unauffällig wie möglich. Dann fragte sie:
„Sind Sie zu mir gekommen, um mit mir siebzigjährige Gauner zu jagen?“
Sie schien fröhlich und ausgeglichen. Überhaupt nicht nervös. „Sie unterschätzen sich“, antwortete ich lachend. „Können Sie sich nicht vorstellen, daß ich Sie nur einfach so besuche, zum Vergnügen? Seit meiner Heimkehr war ich nur mit Männern zusammen. Ich hatte das verständliche Bedürfnis, ein hübsches Gesicht zu sehen. Marc Covet, Maître Montbrison und die ganze Bande sind zwar sehr nett, aber...“
„Sie haben Marc getroffen?“
„Ja, in Lyon. Sein Käseblatt hat sich dorthin verzogen.“
„Daß der Crépu ausgewandert war, wußte ich. Aber nicht, in welcher Stadt er sitzt. Wie geht’s Covet?“
„Nicht schlecht. Etwas schlanker, wie wir alle. Nur Montbrison hat sein Gewicht gehalten.“
„Montbrison?“
„Maître Julien Montbrison. Ein Anwalt. War früher mal in der Agentur. Erinnern Sie sich nicht an ihn? Ein kleiner Dicker, an jedem Finger einen Ring.“
„Nein.“
„Ein Kumpel von Bob. Ein Freund, vornehmer ausgedrückt.“
„Aha. Und Bob? Wie geht es ihm? Hab die ganze Zeit nichts von ihm gehört.“
„Bob? Ach, der ist ganz friedlich. Hab ihn für Sekundenbruchteile gesehen. Er wurde vor meinen Augen auf dem Bahnhof von Perrache umgebracht“, fügte ich beiläufig hinzu.
Mit einem Ruck richtete sich Hélène im Bett auf. Ihr blasses Gesicht wurde grau, die Ringe unter ihren Augen noch dunkler. „Umge...!“ stammelte sie. „Soll das ein Witz sein, Chef?“
„Leider nicht. Es ist so, wie ich Ihnen gesagt habe.“
Sie starrte mir ins Gesicht. Ich hielt ihrem Blick stand. Das trostlose Tageslicht genügte, um zu beobachten, wie sich ihr Gesichtsausdruck veränderte. Wir alle mochten Colomer sehr. Hélène war bestürzt, aber nicht im geringsten verlegen.
Ich befriedigte ihre Neugier mit Einzelheiten, soweit es mir angebracht schien. Dabei gab ich die Schlußfolgerungen von Kommissar Bernier als die meinen aus. Meine Sekretärin tappte in keine der Fallen, die ich auslegte.
Angesichts ihrer offensichtlichen Bestürzung holte ich zu einem zweiten kräftigen Schlag aus: Ich zeigte ihr das Foto der Nr. 60 202. Sie sah es sich gleichgültig an. Ich war mir sicher, daß ihr Desinteresse nicht gespielt war.
„Wer ist das?“ fragte sie nur.
„Er war mit mir in Gefangenschaft. Ich dachte, vielleicht kennen Sie den Mann.“
„Nein. Wieso sollte ich ihn kennen?“
„Wieso nicht?“ fragte ich mürrisch zurück. „Sie sind ungefähr die sechzigste, der ich das Foto zeige.“
Sie warf mir durch ihre lange Wimpern einen beinahe amüsierten Blick zu.
„Wann muß ich bei Lectout kündigen?“ fragte sie.
„Oh, Sie müssen nicht glauben, ich hätte einen Fall angenommen... Die Agentur Fiat Lux liegt noch in tiefem Schlaf. Der Krieg hat ihr einen Tiefschlag versetzt. Leblanc und Bob tot, Zavatter noch in Gefangenschaft, Reboul kriegsversehrt...“
„Ja...“ seufzte Hélène und nickte traurig. „Aber Sie sind wohlauf, Chef... Und Sie bleiben doch jetzt in Paris, oder?“
„Ja, ich bleibe.“
„Also, wenn Sie mich brauchen... Sie müssen mir nur Bescheid sagen!“
Ich beendete dieses enttäuschende Gespräch und verließ
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