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120, rue de la Gare

120, rue de la Gare

Titel: 120, rue de la Gare Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Léo Malet
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noch.“
    Völlig verblüfft durch meine Eröffnung ging der Inspektor folgsam hinaus, um die merkwürdige Sammlung von Verbrecherfotos zu holen.
    „Und jetzt vergleichen Sie dieses Foto mit dem von Parry“, sagte ich, als er mit dem Album zurückkam, und hielt ihm den Mann ohne Gedächtnis unter die Nase.
    „Aber Sie haben doch behauptet...“
    „Kümmern Sie sich nicht um das, was ich gestern gesagt habe“, unterbrach ich ihn. „Der Mann auf Ihrem Foto ist derselbe, dessen Fingerabdrücke ich Ihnen gegeben habe.“
    Mein Freund faßte sich an den Kopf.
    „Verdammt“, stöhnte er resigniert. „Das ist nicht derselbe Mann!“ Er sah mich ratlos an. „Sollten die Fingerabdrücke zum ersten Mal in der Geschichte der wissenschaftlichen Verbrecherbekämpfung...“
    „Reden Sie keinen Unsinn, Faroux! Sie haben sie doch sorgfältig verglichen, oder? Wie viele gemeinsame Merkmale weisen die Fingerabdrücke auf?“
    „Siebzehn. Die höchste Punktzahl.“
    „An jedem Finger?“
    „An jedem.“
    „Also, Irrtum ausgeschlossen. Der Gangster war die Gefangenennummer 60 202.“
    „Aber das ist nicht derselbe Mann“, beharrte Faroux.
    „Doch! Das ist derselbe Mann, weil es der andere ist. Sehen Sie mich nicht so an. Ich bin nicht verrückt. Hab nur mehr Phantasie als andere. Beruhigen Sie sich und vergleichen Sie noch einmal die Fotos! Die Gesichtsform ist die gleiche, aber das Gesicht selbst hat sich — abgesehen von der Narbe — verändert. Der Mund ist schmaler geworden, und das Kinn hat ein Grübchen bekommen. Parrys Nase war gebogen, die meines Mitgefangenen gerade, mit feinen Nasenflügeln. Jo Tour Eiffel hatte abstehende Ohren, die von Nr. 60202 sind enganliegend, kleben beinahe am Kopf.“
    „Sie... Sie haben recht“, mußte mir Faroux nach genauem Hinsehen zustimmen. Als er sich klarmachte, was diese Beobachtungen bedeuteten, ließ er seiner Wut über die Macht der Chirurgie freien Lauf.
    „Und 1938 ist seine Leiche an dem Strand von Cornwall einwandfrei identifiziert worden?“ erkundigte ich mich.
    „Na ja, sie war von Krebsen halb zerfressen... Aber Scotland Yard hat sie identifiziert... hm...“
    „Verstehe. Sie wollen der britischen Polizei nicht unterstellen, daß sie die Realität ihren Wünschen angepaßt hat. Aber genau das denken Sie, oder?“
    „Jedenfalls hat man nach seinem Tod — ob gewünscht oder real — nichts mehr von ihm gehört.“
    „Klar! Er wollte sich aus dem Geschäft zurückziehen und in aller Ruhe von seinem ,Vermögen’ leben. Deshalb hat er das Spiel mit der Leiche erfolgreich in Szene gesetzt und sich — vorher oder nachher — den Händen eines Meisterchirurgen anvertraut. Genauso wie Alvin Karpis, Staatsfeind Nr. 1 der Vereinigten Staaten.“
    Faroux stieß nochmals Verwünschungen und Drohungen gegen die skrupellosen Ärzte aus. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, forderte er von mir Aufklärung, denn die — sein Ton wurde plötzlich aggressiv — sei ich ihm schuldig. Ich hob meine Pfeife auf, klopfte sie aus, stopfte sie wieder und zündete sie an. Dann gab ich meinem Freund einen detaillierten Bericht von der dunklen Geschichte. Allerdings überging ich die Episode mit der Doppelgängerin von Michèle Hogan. Der Mann ohne Gedächtnis mußte mich wohl angesteckt haben.
    „Fassen wir zusammen“, sagte der Inspektor und zwirbelte nachdenklich seinen Schnurrbart. „Im Stalag treffen Sie also Georges Parry, der sein Gedächtnis verloren hat. Hat er wirklich nicht simuliert?“
    „Absolut nicht.“
    „Als er im Sterben lag, hatte er wie durch ein Wunder einen Geistesblitz und sagte zu Ihnen: ,Hélène... 120, rue de la Gare.“„
    „Und ich fragte ihn: Paris? Er meinte, ich würde seinen Namen nennen, und deutete ein Nicken an. Leider ist in der Rue de la Gare im 19. Arrondissement nichts zu holen, da das Haus Nr. 120 gar nicht existiert.“
    „In Lyon werden Sie Zeuge des Mordes an Colomer, der kurz vorher dieselbe geheimnisvolle Adresse nennt. Glauben Sie, er hat herausgefunden, daß Georges Parry noch lebte?“
    „Ja, das ist die einzige Verbindung zwischen den beiden Vorfällen.“
    „Ganz Ihrer Meinung. Dann kommen Sie auf die Idee, daß die Nr. 120 auch die Nr. 60 sein könnte, und zwar in der Rue de Lyon. Um sich über das Provinzleben Ihres Assistenten zu informieren, wenden Sie sich an einen Privatdetektiv. Dessen geschwätzige Sekretärin und ein ehemaliger Komplize von Georges Parry versuchen, Sie ins Jenseits zu befördern. Laut

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