120, rue de la Gare
schlechtgelaunt das Haus Nr. 60, Rue de Lyon. Entweder hatte ich mich von meiner Phantasie auf eine falsche Fährte locken lassen, oder aber dieses Mädchen führte mich an der Nase herum. Keine der beiden Alternativen gefiel mir.
Ich verschanzte mich in einem Café gegenüber und behielt das Haus im Auge. Worauf war dieses dämliche Verhalten zurückzuführen? Worauf wartete ich? Daß Hélène herauskam? Daß sie jemanden warnte? Und wen? Daß ihr Colomers Mörder einen Krankenbesuch abstattete?
Vom Nebentisch schielte ein Gast zu mir rüber. Manchmal schielte er außerdem auch noch auf das Haus gegenüber. Ansonsten täuschte er ein lebhaftes Interesse für die Titelseite einer Tageszeitung vor. Er war einer von Faroux’ Leuten, so unauffällig wie ein Elefant auf der Bühne der Folies-Bergère.
Ich war dermaßen wütend, daß ich drauf und dran war, dem Mann zu sagen, er solle seine „Beschattung“ aufgeben. Doch ich beherrschte mich. Unter dem mißtrauischen Auge des Gesetzes verließ ich das Café.
Den Rest des Tages verbrachte ich in sämtlichen Buchhandlungen, die auf meinem Weg lagen.
* * *
Die Tür zu dem Aufenthaltsraum der Kripo, wo ich ungeduldig pfeiferauchend wartete, öffnete sich, und herein kam Florimond Faroux.
Als ich nach dem Abendessen nach Hause gekommen war, hatte die Concierge einen Rohrpostbrief für mich. Er sei von demselben Mann, der mich den ganzen Nachmittag über vergeblich anzurufen versucht habe. Der Inspektor war wirklich zu beschäftigt, um sich noch einmal herzubemühen. Wenn ich auf einen Sprung am Quai des Orfèvres hereinschauen wolle, so gegen einundzwanzig Uhr... Er habe die Fingerabdrücke identifiziert...
„Ach, da sind Sie ja endlich“, rief er ungewohnt schroff. „Ich hab nur ‘n paar Minuten für Sie Zeit. Schließlich hab ich noch andere Fälle zu lösen. Sie können froh sein, daß ich mich überhaupt mit Ihren Spinnereien abgebe.“
Ich pfiff durch die Zähne.
„Das Klima hat sich merklich verschlechtert“, bemerkte ich. „Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?“
„Ich sage nur: Rue de Lyon! Ihre saubere Sekretärin ist nicht zur Arbeit gegangen. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse; außer einem Kerl, der heute morgen von einem Café aus die Nr. 60 beobachtet hat. Kurz vorher war er aus dem Haus gekommen, offensichtlich schlechtgelaunt. Leider konnte unser Mann ihm nicht folgen.“
„Sagen Sie Ihrem Mann: Erstens, er soll Unterricht in unauffälligem Beschatten nehmen; zweitens, es steht ihm immer noch frei, der verdächtigen Person zu folgen. Ich war’s.“
Diese Eröffnung besänftigte Faroux nicht gerade. Er spuckte einige Flüche aus.
„Sollen wir noch weiter beschatten?“ fragte er dann. „Was ich da für Sie tue, ist gegen die Vorschrift.“
„Lassen Sie trotzdem weiter beschatten“, bat ich ihn. „Man kann nie wissen... Vielleicht nützt das eines Tages Ihrer Karriere.“
„Das bezweifle ich.“
„Und die Fingerabdrücke?“
„Ach ja! Was sollte denn der Scheiß, Burma? Wir von der Kripo beschränken uns darauf, die Lebenden zu belästigen. Aber ihr Privatschnüffler übertreibt es mit euren Rachegelüsten! Haben Sie gehofft, ich würde eines Tages dem Kerl, der zu den Fingerabdrücken paßt, Handschellen anlegen? Ja, allerdings“, fügte er sarkastisch hinzu, „das würde meiner Karriere bestimmt viel nützen...“
„Nein, das hab ich nicht gehofft. Der Mann ist tot.“
Dem Inspektor blieb die Spucke weg.
„Das wußten Sie? Also wirklich... ein starkes Stück!“
„Ja“, gab ich zu.
„Und trotzdem haben Sie mich in unserer Kartei nachsehen lassen? Auf der Suche nach der verlorenen Leiche? Und wußten Sie auch, wer das war?“
„Nein.“
Faroux kam mit seinem graumelierten Schnurrbart ganz nah an mein Gesicht.
„Sie wußten nicht, wer das war?“ fragte er noch einmal. „Nein. Aber Sie werden’s mir doch sicher verraten.“
„Mit Vergnügen. Das waren die Fingerabdrücke von Georges Parry alias Jo Tour Eiffel, dem König der Perlendiebe und Ausbrecher.“
Der Einbrecher
Ich sprang auf und stieß meinen Stuhl um. Die Pfeife fiel mir aus dem Mund und rollte über den Boden. So wie ich da vor dem Inspektor stand, war ich die Sprachlosigkeit in Person.
„Jo Tour Eiffel?“ schrie ich nach der ersten Schrecksekunde. „Georges Parry?“ Ich packte Faroux bei den Anzugrevers. „Holen Sie Ihr Familienalbum, Faroux! Georges Parry ist nicht 1938 gestorben! Bis vor einem Monat lebte er
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