1219 - Die Abrechnung
selbst nicht genau, was mir in diesen Augenblicken alles durch den Kopf schoss. Es waren viele Gedanken auf einmal. Aber zuletzt konzentrierten sie sich einzig und allein auf die Tasche, die so verloren auf der Bank stand.
Eine Frau vergisst normalerweise ihre Tasche nicht. Sie kann alles vergessen, aber nicht ihre Handtasche. Und schon gar nicht stellte sie sie so wie drapiert hin. Irgendetwas stimmte da nicht.
Ich handelte, ohne Suko ein Wort zuvor davon zu sagen. Er wunderte sich schon, wie schnell ich aus der Bank verschwand.
In der folgenden Sekunde hatte ich die Tasche schon an mich gerissen, öffnete sie aber nicht, sondern lief den gleichen Weg mit schnelleren Schritten, den auch Sendrine genommen hatte.
Hinter mir hörte ich noch Sukos Stimme. Er rief meinen Namen, aber ich hörte nicht. Etwas trieb mich voran. Als wären unsichtbare Geschöpfe dabei, mich zu attackieren.
Die Wände und die Decke, sie flogen nur so an mir vorbei.
Ich hatte das Gefühl, in Panik zu geraten. Ich wusste nicht, was geschehen war, ich musste einfach etwas tun.
Es war eine normale Tasche. Sie war recht flach. Vergleichbar mit einem größeren Etui. Sie besaß auch kein besonderes Gewicht. Ich hatte nicht die Zeit, sie zu öffnen, und ich hätte mich das in diesen hektischen Augenblicken auch nicht getraut.
Ich war in Schweiß gebadet, als ich endlich das Kloster verlassen hatte. Es war noch nicht dunkel geworden. Die Luft schien zu stehen, und meine Blicke huschten vor der Eingangstür nach links und rechts.
Dann sah ich sie.
Sendrine war nicht weggelaufen. Sie konnte es nicht. Etwa zwanzig Meter weiter lag sie auf dem Boden, als wäre sie von einer Faust niedergeschlagen worden.
Es gab keinen Feind in ihrer Nähe. Wahrscheinlich war sie zu schnell gelaufen und in ihrer Eile einfach nur gestolpert und dabei so unglücklich gefallen, dass sie sich den Fuß oder das Bein verletzt hatte.
Ich ging auf sie zu.
Genau in dem Augenblick hob sie den Kopf - und begann zu schreien!
***
Den Grund kannte ich nicht!
Sie brüllte einfach los wie ein Mensch, der von einer irren Angst gepeinigt wird. Vor dem Kloster hörten sich ihre Schreie noch lauter an. Sie brandeten in meinen Ohren.
Ich ging trotzdem auf Sendrine zu, die es jetzt schaffte, sich halb aufzurichten und mir beide Hände entgegenzustrecken, wobei ihre Schreie leiser wurden.
Dann stand ich vor ihr.
Sendrine schaute zu mir hoch. Wir beide zusammen sahen aus wie eine Plastik, denn sekundenlang bewegte sich niemand.
Sendrines Augen waren verdreht, der Mund verzerrt, und dann stieß sie etwas hervor.
»Die Tasche - die Tasche!«
»Ich weiß«, sagte ich. »Sie haben die Tasche vergessen!«
»Hauen Sie ab!«
Manchmal kann ich stur sein, so auch hier. »Nein, ich denke nicht daran. Ich habe mich nicht grundlos so beeilt, um Ihnen die Tasche wiederzubringen.«
»Ich will sie nicht!«
Nach dieser Antwort schrillten die Alarmglocken in meinem Kopf noch lauter. Aber ich dachte nicht daran, die Tasche zu behalten. Deshalb bückte ich mich schnell. Bevor sie sich versah, hatte ich sie ihr in die Hände gedrückt.
Sendrine war so überrascht, dass sie nichts sagen konnte. Sie glotzte mich einfach nur an und presste dabei die Tasche wie einen wertvollen Gegenstand an ihren Oberkörper.
»So«, sagte ich, »und jetzt…!«
»Neiiiinnn!« Der nächste Schrei unterbrach mich. »Ich kann nicht mehr. Die Tasche. Eine… eine Bombe…«
Ich wurde zu Eis.
Plötzlich war mir alles klar. Innerhalb einer Sekunde lief die gesamte Szenerie noch mal vor meinem geistigen Auge ab, und ich verstand jetzt ihre Reaktion.
Sie hatte die Tasche abgestellt, war selbst verschwunden, und die Bombe hätte die meisten von uns sicherlich in den Tod gerissen. Außerdem konnte sie jeden Augenblick explodieren.
In diesen Sekunden war mir Leib und Leben am wichtigsten von allem. Sendrine fiel wieder zurück auf den Rücken. Sie streckte die Arme hoch, ließ sie noch mal nach unten sacken, um Schwung zu holen, damit sie die verdammte Tasche wegschleudern konnte.
Ich rannte.
Es war aus einem reinen Überlebensreflex geboren. Meine Beine schienen sich selbständig gemacht zu haben. Aber ich hatte ein Ziel, denn ich hetzte auf die noch nicht geschlossene Eingangstür des Klosters zu, um hinter den dicken Wänden einigermaßen sicher zu sein.
Die Schwelle hatte ich mit dem rechten Fuß betreten, als hinter mir die Hölle losbrach.
Ein wahnsinniger Knall schien alles in meinem Kopf zerreißen zu
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