1219 - Die Abrechnung
uns zu. Sie durchliefen einen langen Baumschatten. Trotzdem erkannten wir den neuen Führer der Templer, Godwin de Salier. Er hatte eine Besucherin mitgebracht, eine junge Frau, die wir nicht kannten.
Sie trug einen dunklen Hosenanzug und eine helle Bluse.
Über die linke Schulter hatte sie die Riemen einer Tasche gehängt. Ihr Haar war dunkelbraun. Es wuchs dicht und war zu einer halblangen, etwas strähnigen Frisur geschnitten worden.
Das Alter der Frau schätzte ich auf Ende Zwanzig.
Vor uns blieben die beiden stehen. Sie lächelten, aber Godwins Lächeln kam mir gequält vor, und seine Augen blickten skeptisch.
»Wir haben Besuch bekommen«, sagte er.
»Ja, das ist nicht zu übersehen.«
Die junge Frau streckte mir die rechte Hand entgegen. »Damit Sie Bescheid wissen, ich heiße Sendrine Bloch…«
***
Nein, wollte ich sagen, aber ich sagte nichts und hielt meine Antwort im letzten Augenblick zurück. Dennoch war mir die Überraschung anzusehen, und meinem Freund Suko bestimmt auch, denn die Besucherin lächelte etwas mokant.
»Ich sehe, dass Sie mit meinem Besuch nicht gerechnet haben, Messieurs.«
»Nicht mit einer Sendrine Bloch.«
»Ich bin die Nichte.«
Mein Blick fiel in ihre dunklen Augen. Argwohn und Hinterlist sah ich darin nicht. Trotzdem kämpfte ich noch immer mit der Überraschung. »Von einer Nichte hat der Abbé nichts erzählt«, sagte ich. »Tut mir Leid, aber da sehen Sie mich völlig perplex. Warum hat er Sie uns verschwiegen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber wir beide kennen uns«, sagte Suko.
»Ja, von der Raststätte. Sie sind mir ebenfalls aufgefallen. Da wusste ich noch nicht, dass Sie auch zur Beerdigung meines Onkels fahren würden.«
Ich begriff so gut wie nichts mehr, aber das war auch nicht wichtig. Jetzt zählte nur, dass sie gekommen war, und ich erkundigte mich, wie sie vom Tod ihres Onkels erfahren hatte.
Frei und offen berichtete sie von der Botschaft, die sie sich nicht hatte erklären können. Aber sie hatte den Drang gespürt, nach Alet-les-Bains zu fahren, um ihrem Onkel das letzte Geleit zu geben.
»Ich habe ihn seit meiner Kindheit nicht gesehen. Jetzt überkam mich schon ein schlechtes Gewissen.«
»Ich habe es akzeptiert, John!«, erklärte Godwin.
»Ja, natürlich.«
»Aber ich wollte euch unbedingt Bescheid geben. Sendrine möchte sich ein wenig frisch machen. Ich werde sie zu einem Gästezimmer begleiten.«
»Ja, das ist wohl richtig.«
»Wir sehen uns dann später«, verabschiedete er sich mit leiser Stimme bei uns und drehte sich dann um.
Suko und ich blieben am Grab zurück. Erst als die Schritte nicht mehr zu hören und die beiden nicht zu sehen waren, sprachen wir wieder miteinander.
»Sendrine Bloch«, sagte ich mit leiser Stimme. »Hast du damit rechnen können?«
»Nein, John. Es hat mich völlig überraschend getroffen. Das war…«, er hob die Schultern. »Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll.«
»Er hat nie über sie gesprochen.«
»Klar, John. Aber hat der Abbé je etwas über seine Verga ngenheit gesagt?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Eben.«
Ich schwieg und schaute zu Boden wie jemand, der jeden Stein einzeln zählen will. »Trotzdem ist mein Misstrauen nicht verschwunden«, sagte ich mit leiser Stimme. »Ich habe dir doch von Blochs Warnung erzählt. Von der Gefahr, die auf uns zukommen soll. Das habe ich nicht vergessen.«
»Hältst du Sendrine für diese Gefahr?«
»Das weiß ich nicht. Ungewöhnlich ist ihr Erscheinen schon. Auch deshalb, wie sie von dieser Beerdigung erfahren hat.«
»Aber nicht auszuschließen.«
»Nein, das nicht.«
Ich schob meine Hände in die Hosentaschen. »Du hast sie doch auf der Raststätte gesehen, Suko. Ist dir dabei etwas aufgefallen?«
»Überhaupt nichts. Sie hat sich völlig normal benommen. Da kann ich nichts Negatives sagen. Nur, dass auch mir ihr Erscheinen hier ungewöhnlich vorkommt.«
»Klar.«
»Und du glaubst noch immer, dass sie die Gefahr ist, von der Blochs Geist gewarnt hat?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wenn ich ehrlich sein soll, hat sie mir nicht eben gefährlich ausgesehen. Obwohl das auch nicht immer stimmt. Unsere Gegner können sich verdammt gut tarnen.«
»Wir sollten Sendrine Bloch testen«, schlug Suko vor.
»Gut. Mit dem Kreuz?«
»Daran habe ich gedacht. Obwohl ich noch mal beteuern muss, nichts Auffälliges an ihr entdeckt zu haben. Sie schaute uns offen und frei an. War nicht mal überrascht.«
Suko zuckte die Achseln. »Egal, ich
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