1219 - Die Abrechnung
Kind, das erst vor kurzem das Laufen gelernt hat, tappte und schlich sie durch die Dunkelheit. Erst als sie gegen ein Hindernis stieß und dies ertastete, wusste sie, dass sie sich nach links drehen musste, um das Ziel neben der Tür zu erreichen.
Ihre Hände fanden Widerstand. Es war die glatte Wand. Man hatte sie mit einer lindgrünen Farbe angestrichen, ähnlich wie die Umgebung in einem Operationsraum.
Plötzlich konnte sie wieder lachen. Es war nicht laut, aber sie musste es einfach loswerden, und sie stützte sich einen Moment an der Wand ab.
Es ging ihr jetzt besser, und sie tastete an der Wand entlang, um den Schalter zu finden.
Er war durch ein Gummi gesichert. Allerdings ließ er sich leicht umlegen, was Sendrine sofort tat - und erleben musste, dass nichts passierte.
»Verdammt!«, flüsterte sie.
Sie probierte es noch mal.
Wieder nichts!
»Also doch die Sicherung!« Nachdem sie diesen Satz ausgesprochen hatte, fühlte sich Sendrine wieder etwas besser. Sie wusste jetzt, woran es lag, dass sie in der Dunkelheit stand.
Dass Sicherungen durchschlugen, konnte immer wieder passieren. Das war überhaupt kein Problem, deshalb nannte sie sich eine Närrin, sich überhaupt Sorgen zu machen.
Aber die Furcht blieb bestehen. Sie war wie eine Mauer, die sie von allen Seiten einengte.
Jedenfalls habe ich die Nähe der Tür erreicht, dachte sie. Ich weiß, dass sie nicht geschlossen ist. Ich muss mich nur einmal um sie herumdrehen, dann kann ich den Flur betreten und alles ist okay.
Ganz einfach.
Der Flur, die kleine Treppe. Zum Glück nur wenige Stufen.
Dann die Kellertür, die ich öffnen muss, um anschließend wieder ins Helle zu kommen. Dann kann ich locker bis zu meiner Wohnungstür gehen und den Mist hier vergessen.
Mit der flachen Hand tastete sie an der Wand entlang, erreichte die Kante und klammerte sich für einen Moment daran fest.
Wieder atmete sie tief durch. Besser ging es ihr trotzdem nicht.
Sie hatte das Gefühl, ersticken zu müssen.
Aber sie ging weiter.
Dann stand sie im Flur.
Fast hätte Sendrine gelacht. Sie hatte kaum mitbekommen, wie ihr dies gelungen war. Da war sie über den eigenen Schatten gesprungen, und das sah sie jetzt als einen Erfolg an.
Die Handflächen wischte sie am glatten Stoff ihrer Radlerhose ab. Sie hämmerte sich ein, froh über den Erfolg sein zu müssen, schließlich war sie schon recht weit gekommen. Die paar Schritte bis zur Treppe würde sie auch noch schaffen.
Genau sechs Stufen ging es hoch bis zu der kleinen Plattform vor der Kellertür, und dann war es nur noch ein Kinderspiel.
Das Herz klopfte trotzdem schneller. Vor ihr lag wieder die tiefe Finsternis.
Sie sah nichts, sie konnte sich nur auf ihr Gefühl verlassen, und das signalisierte Gefahr.
Plötzlich hörte sie etwas.
Es war ein Geräusch, aber es war nicht von ihr verursacht worden, sondern von einer anderen Person, die in der Nähe und sogar direkt vor ihr stand.
Ein Atemstoß! Nicht mehr! Und doch hatte er ausgereicht, denn Sendrine wusste, dass sie nicht mehr allein war.
***
Sie schrie! Sie drehte durch! Ihre Angst entlud sich in ihrem Innern, denn nach außen hin war kein Laut zu hören. All ihre albtraumhaften Vorstellungen hatten sich bewahrheitet. Es war kein Defekt in der Elektrik gewesen. Jemand hatte die Sicherungen bewusst außer Kraft gesetzt, und dieser Jemand hatte es nur getan, um an sie heranzukommen.
Er stand vor ihr. Er musste einfach vor ihr stehen, denn von dort hörte sie ein weiteres Geräusch, das dem ersten haargenau glich. Wieder dieser Atemstoß.
Wer immer dort stand und wartete, er hatte seinen Grund gehabt. Sie glaubte fest an einen Mann, und das Bild vom psychiatrischen Killer stieg wieder vor ihrem geistigen Auge hoch. Einer, der in Häuser hineinschlich, um Frauen zu vergewaltigen, die er anschließend dann tötete, weil er keine Zeugen haben wollte.
All das kam ihr zu Bewusstsein und verstärkte die Angst noch.
Von dem Unbekannten hörte sie nichts mehr. Er wartete ab, er wollte, dass sie ihm in die Arme lief.
Den Gefallen wollte sie ihm nicht tun. Aber welche Möglichkeit blieb? Wieder zurück?
Nein, das wäre Unsinn. In diesem Keller konnte sie dem Fremden nicht entkommen.
Etwas passierte vor ihr. Sie hörte ein leises Schaben, fand jedoch nicht heraus, ob es von der Kleidung stammte oder von den Schuhsohlen des anderen. Sendrine wusste nur, dass etwas auf sie zukam, was sie nicht sehen konnte.
Der Geruch war plötzlich da. Sie mochte ihn
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