1219 - Die Abrechnung
konnte einfach nicht anders. Ich musste herkommen. Mich drückten plötzlich Schuldgefühle.«
Das klang alles sehr plausibel, und es war auch nichts dagegen einzuwenden. Trotzdem waren meine Bedenken nicht verschwunden. Nach wie vor traute ich Sendrine Bloch nicht über den Weg.
Ich hatte mein Kreuz in die rechte Tasche gesteckt, um es schnell hervorholen zu können, wenn es darauf ankam. Als ich jetzt meine Hand für einen Moment darum schloss, durchströmte mich ein wunderbar warmes Gefühl der Dankbarkeit.
Es tat einfach gut, mich wieder darauf verlassen zu können.
Der Frau hatte ich meine linke Körperseite zugedreht, so sah sie nicht, wie ich den silbernen und geweihten Talisman hervorholte. Erst als ich mich umdrehte und den rechten Arm nach vorn streckte, sah sie, was auf meiner Handfläche lag.
Im ersten Augenblick reagierte Sendrine nicht. Sie war einfach nur sprachlos. Dann hörten wir, wie sie Luft holte. »Was ist das?«, fragte sie leise.
»Ein Kreuz.«
»Ja, das sehe ich. Aber… aber…«, sie begann zu stottern.
»Ich habe noch nie in meinem Leben ein derartiges Kreuz gesehen.«
»Kann sein.« Ich blieb weiterhin sehr freundlich. »Gefällt es Ihnen denn?«
»Es ist wunderschön«, flüsterte sie.
»Wollen Sie es mal in die Hand nehmen?« Es war ein wicht iger Test, und ich war gespannt, wie sie darauf reagierte.
Sie hob die Schultern. »Nein oder ja…«
»Was denn?«
»Später vielleicht«, flüsterte sie. »Dann schaue ich es mir genauer an. Danke, dass Sie es mir erlauben, aber jetzt sollten wir in die Kapelle gehen. Ich möchte nicht zu spät kommen.«
So also lief es. »Klar«, erwiderte ich lächelnd. »Sie haben Recht. Es ist nicht gut, wenn man zu spät kommt.« Ich ließ das Kreuz wieder verschwinden und hatte den Eindruck, dass Sendrine Bloch auf eine gewisse Art und Weise erleichtert war.
Darauf geschworen hätte ich allerdings nicht, und so ließ ich sie in Ruhe.
Sie hatte sich bereits umgedreht und ging mit sehr zögerlichen Schritten auf die offene Tür der Kapelle zu. Ich hatte Sendrine schnell erreicht und blieb an ihrer Seite.
»Haben Sie die Leiche Ihres Onkels schon gesehen?«
»Nein.«
»Sie hätten Gelegenheit gehabt.«
»Ich weiß«, gab sie zu. »Aber Sie müssen mich recht verstehen, Monsieur Sinclair. Ich habe es einfach nicht über mich gebracht. Es ist für mich zuviel gewesen. Über Jahre hinweg hatte ich keinen Kontakt mit ihm, und ihn plötzlich als Toten zu sehen, das ist nicht mein Fall. Das wollte ich mir nicht antun. In der Gruppe ja, doch als Einzelperson habe ich mich einfach davor gefürchtet.«
»Kann ich verstehen.«
»Ich hole es nach.«
Wir hatten die Schwelle überschritten. Zumindest ich hatte das Gefühl, das Reich des Todes zu betreten, in dem die Lebenden einfach nur als Gäste geduldet wurden.
Die Templer hatten bereits ihre Plätze eingenommen und sich in den Bänken verteilt. Jeder wusste immer genau, wo er zu sitzen hatte. Auch jetzt hatte sich daran nichts verändert.
Das Tageslicht war noch vorhanden, aber schwächer geworden. Und so sickerte auch nicht viel durch die schmalen Fenster in das Innere der Kapelle.
Es waren Kerzen angezündet worden. Sie verteilten ihr Licht wie Geister innerhalb der Kapelle, ohne allerdings den gesamten Raum erleuchten zu können. Es gab noch genügend dunklere Stellen, in denen sich die Schatten zusammengefunden hatten und dort finstere Inseln bildeten. Um den offenen Sarg herum war die Anzahl der Kerzen verdreifacht worden. Jemand hatte dem Sarg eine andere Position gegeben und ihn an seinem Kopfende höher gestellt. So konnte jeder der Anwesenden hineinschauen, egal, auf welchem Platz er saß.
Auch ich blickte hinein und sah wieder das Gesicht des toten Freundes. Auf mich wirkte es wie aus Marmor gehauen. Die Haut sah so anders aus. Auch der Kerzenschein konnte die Blässe nicht verschwinden lassen. Die Lippen waren geschlossen, doch es hätte mich nicht gewundert, wenn er sie plötzlich geöffnet hätte, um uns zu begrüßen.
Sendrine machte ihr Versprechen wahr. Sie ging tatsächlich bis zum Fußende des Sargs, um sich ihren verstorbenen Onkel anzuschauen.
Niemand sprach sie an. Man ließ sie einfach in Ruhe Abschied nehmen, aber die Blicke der Templer galten schon ihr.
Wobei die Männer immer zur Seite schielten.
Etwa eine Minute hielt sie es aus. Dann drehte sie sich um und ging wieder zurück, um sich ihren Platz zu suchen. Wir schauten sie dabei an. Ich wollte an ihrem
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