1227 - Lord Mhutans Stunde
„Es wird eine bessere Gelegenheit geben, zu entkommen."
Der Haluter lachte.
„Nein, meine Täubchen", dröhnte seine Stimme. „So leicht wird es nicht sein. Der Tiefeneinfluß wird siegen!"
Zunächst hatte Domo Sokrat überhaupt nichts gespürt. Dann hatte langsam ein immer stärker werdendes Ziehen in seinem Ordinärhirn eingesetzt. Das Ordinärhirn steuerte die motorischen Bewegungen seines Körpers und war für die Verarbeitung der sinnlichen Wahrnehmungen verantwortlich. Die Beeinträchtigung setzte ein, bald nachdem sie die Kavernen betreten und sich auf den Weg nach Mhuthan gemacht hatten. Das empfindliche Doppelgehirn des Haluters hatte den gefährlichen Graueinfluß viel eher gespürt, und eigentlich hätte er seinem Ritter sofort von seinen Eindrücken berichten müssen. Er hätte ihm sagen müssen, daß das Grauleben trotz der in den Kavernen Schatzens vorhandenen Vitalströme einen Weg durch die Kavernen suchte.
Er hatte es unterlassen. Ihm, dem Tiefenphilosophen fehlte plötzlich die Sprache dazu.
Und gleichzeitig waren auch andere Sinne seines Körpers beeinträchtigt, und in mehreren Situationen hatte er sich tollpatschig und völlig verkehrt verhalten. Atlan und Salik hatten sich nicht anmerken lassen, ob es ihnen auffiel oder nicht. Zumindest sein Ritter hatte über die Vorkommnisse hinweggesehen.
Dann, mit dem Erreichen der Grenze zwischen den beiden Ländern, hatte sich der Graueinfluß weiter in ihm ausgebreitet. Er war bis in sein Planhirn vorgestoßen und hatte damit sein gesamtes Denken erfaßt. Neugier war in Domo Sokrat erwacht. Der Tiefenphilosoph, der freiwillig zu Grauleben geworden war, fragte sich, wie es denn sei, wenn er unter all den Phänomenen leiden würde, wie sie an den übrigen Bewohnern des Graulandes feststellbar waren: Depression, Gereiztheit, Aggressivität, die Umkehr aller positiven Eigenschaften ins Negative und die Verstärkung aller bereits als negativ vorhandenen. Er ging dabei von dein Gedanken aus, daß der Graueinfluß einem Wesen, das die Tiefe eingeatmet hatte, nicht schaden konnte. Im Gegenteil, seine Erfahrungen konnten den beiden Rittern helfen, besser gegen den Einfluß standzuhalten.
Zu diesem Zeitpunkt jedoch wollte er ihnen gar nicht mehr helfen. Die erwachende Sympathie für die Handlungsweise Lord Mhuthans ließ den Haluter zögern. Und er glaubte auch zu wissen, was seine eigentliche Aufgabe in diesem undurchsichtigen Spiel in der Tiefe war.
Also wartete er auf den günstigsten Zeitpunkt, die beiden Feinde des Graulebens aus dem Verkehr zu ziehen. Lord Mhuthan würde zufrieden mit ihm sein und den Philosophen der Tiefe als das anerkennen, das er war.
Als vollendetes Grauleben.
Der Wandel in Domo Sokrat ging so schnell vor sich, daß der Haluter ihn gar nicht in allen Teilen bewußt mitbekam. Seine Verbundenheit mit der Tiefe, seine Erfahrungen in der Tiefenkonstante und seine Überzeugung, daß nur Tiefenleben einen Fortschritt darstellte, trugen dazu bei.
Was blieb, war ein Orbiter, der alles verstand in dieser grauen Welt, nur nicht, warum er der Orbiter eines Ritters der Tiefe geworden war.
4.
In seiner Einmaligkeit war Korzbranch ein kleines Paradies. Das Hochplateau ragte zweihundert Meter über das Land Mhuthan hinaus. Seine Steilabfälle machten es für Fußgänger nahezu unerreichbar. Es war zehn Kilometer lang und fünf breit und bestand aus einem rötlichen, schwarzgesprenkelten Material, dem Stahlstein. Es wurde von einer dicken Humusschicht bedeckt, ein weitläufiger Garten mit zahlreichen Nutzpflanzen, die immer grün waren und durchgehend Früchte trugen. Diese Natur lieferte alles, was die rund fünftausend Bewohner zum Leben brauchten.
An den Rändern des Plateaus standen verschieden hohe Beobachtungstürme, die einen weiten Blick in das Land Mhuthan und bis hinein nach Schatzen ermöglichten. Die Türme bewachten gleichzeitig die sechs Steilpfade, die zum Plateau hinaufführten.
Die Bewohner Korzbranchs setzten sich aus unterschiedlichen Wesen zusammen.
Tiziden und Abaker waren darunter, aber auch andere Völker. Sie alle waren Flüchtlinge, die hier ein neues Zuhause gefunden hatten. Sie waren friedlich, denn der Graueinfluß verschonte sie größtenteils. Jedoch verstanden sie es, sich ihrer Haut zu wehren.
Als sich die Antigravscheibe Korzbranch näherte, sah Tengri Lethos schon von weitem die vielen verstreut liegenden Glasbauten, in denen die Flüchtlinge lebten. Obstbäume und Gemüse in verschiedenen
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