128 - Sohn der Ratten
vergeblich gewesen waren und sich Dorian Hunter und seine Begleiter hatten retten können.
Kamenskij setzte sich an seinen Schreibtisch und stopfte sich bedächtig eine Pfeife. Dabei vermied er es peinlich, Dunja anzusehen. Obzwar er erst dreißig Jahre alt war, war sein Kopf glatt wie ein Ei. Sein rosiges Gesicht war aufgedunsen; die dicke Hornbrille verlieh ihm das Aussehen eines Nachtvogels.
Der Professor zündete den Tabak an, stieß den Rauch aus und blickte kurz Dunja an.
„Wer ist Dorian Hunter?" fragte er und sah der Rauchwolke nach, die zum Fenster schwebte. „Dorian Hunter?" fragte Dunja und versuchte, ihre Stimme verwundert klingen zu lassen.
„Coco Zamis. Sagt Ihnen dieser Name etwas? Oder Olivari - möglicherweise auch Olivaro?"
„Wer sollen diese Leute sein?"
„Das will ich eben von Ihnen wissen, Dunja."
„Ich habe diese Namen nie zuvor gehört."
Kamenskij seufzte.
„Sie kennen unsere Sicherheitsbestimmungen, Dunja", sagte er leise. „Sie wissen, daß ich Sie immer sehr geschätzt habe. Aber Sie machen es mir nicht leicht, Mädchen."
Dunja schloß die Augen halb. Mühsam unterdrückte sie das Zittern ihrer Hände.
„Dunja, wir beschäftigen uns mit PSI-Fähigkeiten. Und Sie haben auf diesem Gebiet eine recht ausgeprägte Begabung. Ihr Verhalten war höchst ungewöhnlich. Mir bleibt keine andere Wahl. Ich muß den Sicherheitsdienst verständigen. Das ist Ihnen doch klar?"
Dunja nickte langsam.
„Sie haben mich enttäuscht, Dunja", fuhr der Professor fort und starrte seine Pfeife an, die ausgegangen war. „Unser Verhältnis war äußerst herzlich in den vergangenen zwei Jahren. Eigentlich hätte ich von Ihnen erwartet, daß Sie zu mir kommen würden, wenn Sie irgendwelche Probleme haben. Wir hätten sicherlich eine Lösung gefunden. Sie wissen, daß ich den Sicherheitsdienst nur äußerst ungern einschalte, doch die Vorkommnisse dieser Nacht kann ich nicht vertuschen."
„Tut mir leid, Professor", sagte Dunja fast unhörbar. „Ich konnte nicht anders. Es blieb mir keine andere Wahl. Ich bedauere es sehr, daß Sie von mir enttäuscht sind. Tun Sie Ihre Pflicht!"
Kamenskij verzog den Mund, legte die Pfeife auf den Tisch und griff nach dem Telefon. Er hob den Hörer ab, wählte eine Nummer und blickte Dunja vorwurfsvoll an.
Fedor Maslow entstammte der neuen Generation der Sicherheitsbeamten. Auf den ersten Blick hätte ihn wohl kaum jemand für einen Polizisten gehalten. Die Zeit der bösen Kommissare in den abgetragenen Ledermänteln war auch in der UdSSR endgültig vorbei. Maslow war zweiunddreißig Jahre alt, sein brünettes, leicht gewelltes Haar bedeckte die Ohren. Sein Gesicht mit den haselnußbraunen Augen wirkte verträumt. Er lächelte gern und oft. Für die Aufgabe als Sicherheitsbeamter im PSI- Zentrum der UdSSR war er speziell geschult worden. Er war immun gegen alle Arten von parapsychologischer Beeinflussung und auch gegen normale Hypnose.
Maslow studierte die Karteikarte, die vor ihm auf dem wuchtigen Schreibtisch lag. Sie zeigte das Bild eines hübschen Mädchens; daneben befanden sich die Fingerabdrücke von ihr.
Dunja Dimitrow war vor vierundzwanzig Jahren in Nowgorod geboren und auf einer Kolchose aufgewachsen. Bald schon war man auf ihre außergewöhnliche Intelligenz aufmerksam geworden. Sie war nach Moskau gesandt, hatte dort die Schule mit Auszeichnung beendet und Psychologie zu studieren begonnen; und während des Studiums hatten sich ihre besonderen Fähigkeiten herausgestellt. Mühelos gelang es ihr, alle möglichen Personen zu hypnotisieren. Dunja hatte sich danach eingehend mit der Suggestologie beschäftigt und auch auf diesem schwierigen Gebiet außerordentliche Fähigkeiten entwickelt. Vor zwei Jahren hatte sie ihr Studium abgebrochen und war nach Akademgorodok gekommen, wo sie unter Professor Kamenskij ihre Arbeit aufgenommen hatte. Ihr Dienstzeugnis war ausgezeichnet. Sie war eine willige Mitarbeiterin, die nur für ihre Aufgabe zu leben schien. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr war sie Mitglied der Kommunistischen Partei, zwar kein eifriges, aber bis zum heutigen Tag hatte sie sich nichts zuschulden kommen lassen.
Maslow legte die Karteikarte zur Seite, steckte sich eine Zigarette an und überlegte.
Das Verhalten des Mädchens war unverständlich. Nochmals las er sich Kamenskijs Aussage durch. Schließlich beugte er sich vor, drückte auf den Knopf seines Sprechgerätes und verlangte, daß Dunja Dimitrow zu ihm gebracht wurde.
Zwei Minuten
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