128 - Sohn der Ratten
zur Großen Mutter, die ihnen das Leben geschenkt hat."
Coco hing einige Zeit ihren trüben Gedanken nach. Ihr Leben war ein ständiger Kampf gewesen. Immer hatten Dorian und sie gegen irgend jemanden kämpfen müssen; mal gegen Asmodi, mal gegen Olivaro, dann gegen Hekate und schließlich gegen Luguri und die Janusköpfe. In ihrem Zusammenleben hatte es nur wenige Stunden gegeben, in denen sie ganz füreinander dagewesen waren. Und Coco war sicher, daß der Kampf weitergehen würde, sollte Dorian lebend zurückkommen. Dann dachte sie an ihren Sohn und fragte sich, wie es ihm wohl gehen mochte. Um ihn hatte sie sich schon lange nicht mehr kümmern können. Nur sie kannte seinen Aufenthaltsort; nicht einmal Dorian wußte, wo sich ihr Sohn aufhielt.
Ihr Blick fiel auf Olivaro, der bewegungslos wie eine Statue dastand und auf die Große Mutter starrte. Sein Gesicht schien von innen her zu leuchten. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und die dunklen Augenhöhlen schimmerten jetzt rötlich.
„Was ist los mit dir, Olivaro?" fragte sie.
Doch Olivaro antwortete nicht; es war, als würde er einer Stimme lauschen.
Coco blickte ebenfalls zur Großen Mutter hinüber. Anfangs fiel ihr nichts Besonderes auf, doch dann merkte sie es.
Die Große Mutter gebar keine Ungeheuer mehr. Die Öffnungen, aus denen die scheußlichen Monster gekommen waren, hatten sich geschlossen.
„Olivaro!" rief sie.
Aber Olivaro bewegte sich noch immer nicht. Jetzt umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen. Minuten später waren nur noch ganz wenige Ungeheuer zu sehen, und das Beben des Bodens hörte auf. Es wurde auch langsam heller. Man sah wieder den giftgrünen Himmel und die magischen Blitze, die in den Boden rasten.
Olivaro bewegte sich langsam. Es sah so aus, als wäre er aus einem unendlich langen Schlaf erwacht.
„Die Große Mutter", sagte Olivaro zufrieden. „Sie hat sich beruhigt. Das ist ein gutes Zeichen. Wahrscheinlich hat sie bereits den Ys-Spiegel."
„Und was ist mit Dorian?"
Olivaro hob die Hände. „Ich weiß es nicht, Coco. Ich weiß es wirklich nicht."
Er blickte erneut ein paar Sekunden zur Großen Mutter hin, schüttelte langsam den Kopf und schaute dann Coco an.
„Ich habe dir und Dorian nicht die Wahrheit gesagt, aber ich habe es nicht absichtlich getan."
Coco blickte den ehemaligen Herrn der Schwarzen Familie mißtrauisch an. Seit sie Olivaro kannte, hatte er immer nur gelogen. Bei ihm war es fast unmöglich, festzustellen, was Wahrheit und was Lüge war.
„Du mußt mir glauben, Coco. Ich habe es erst vor wenigen Augenblicken erfahren. Ich war… Hm, da gibt es eigentlich kein ähnliches Wort in der irdischen Sprache. Am nächsten kommt noch das Wort Hypnose. Ich war bis vor wenigen Sekunden hypnotisiert."
„Und wer hat dich hypnotisiert?"
„Die Große Mutter. Warte! Unterbrich mich nicht! Ich werde dir alles erzählen. Es begann vor mehr als zwölfhundert Jahren irdischer Zeitrechnung. Die Große Mutter hatte mich erschaffen. Ich sollte einen ganz bestimmten Auftrag erfüllen. Ich sollte zur Erde gehen und dort den Spiegel holen."
„Den Ys-Spiegel?"
„Ja. Dieses Amulett war vor unzähligen Jahren verschwunden. Darüber haben wir ja schon ausführlich gesprochen. Die Große Mutter wollte den Versuch unternehmen, das verschwundene Amulett zu finden. Und für die Suche wählte sie mich aus."
„Aber ich dachte, du bist wegen der Psychos zur Erde gekommen?"
„Das war ein Teil meines Auftrages. Doch der wesentlichste Teil war, den Spiegel zurückzuholen. Dieser Auftrag mußte vor den anderen Janusköpfen geheimgehalten werden, denn sie hatten kein Interesse daran, daß das Amulett gefunden wurde. Ich selbst wußte nichts davon, daß ich eigentlich nur nach dem Spiegel suchen sollte. Ich kam zur Erde und machte mich mit der Situation dort vertraut. Für mich war es eine unglaubliche Umstellung. Die Erde war so ganz anders als meine Welt. Zuerst nahm ich ein menschliches Aussehen an, was mir nicht besonders schwerfiel. Viel schwieriger waren für mich die vielen Sprachen. Doch auch sie lernte ich. Und mir gelang es teilweise, meine janusweltbezogene Magie auch auf der Erde anzuwenden. Ich nahm die ersten Kontakte mit der Schwarzen Familie auf und wurde von ihr akzeptiert. Dann baute ich meine Macht aus und distanzierte mich immer mehr von der Schwarzen Familie. Daran war mein Unterbewußtsein schuld, das ja den Befehl hatte, nach dem Amulett zu suchen. Schließlich fand ich eine Spur des Hermes
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