1280 - Der Engel und sein Henker
ins Schloss fiel.
Ich hätte seine Verfolgung aufnehmen können. Darauf verzichtete ich. Fatty war im Moment nicht wichtig. Da musste ich andere Prioritäten setzen.
»Komm her, John«, bat mich Lavinia. Ihre Stimme zitterte, weil sie unter einem starken Druck stand.
Ich hatte mich um Logan kümmern wollen, doch jetzt musste ich einfach zu Lavinia gehen. Sie brauchte mich, und ich sah auch, dass sie schwach geworden war. Es fiel ihr sogar schwer, sich normal auf den Beinen zu halten. Sie suchte Halt, und den bekam sie schließlich bei mir.
»Ich bin so kalt, John«, flüsterte sie, »als wäre anderes Blut in mir. So anders…«
»Schon gut, schon gut.« Ich nahm sie in die Arme und merkte sehr schnell, dass sie sich diese Kälte nicht eingebildet hatte. Sie war tatsächlich vorhanden, denn auch ich spürte sie.
Der Körper fühlte sich an, als wäre er von einer dünnen Eiskruste überzogen worden, die zugleich einen Schutz gegen die verdammte Kugel gebildet hatte. Es gelang mir auch, das Kugelloch zu entdecken. Es befand sich an ihrer linken Seite. Wäre alles normal gewesen, hätte die Kugel in ihrem Herzen stecken müssen. Doch es war nicht normal. Jemand hatte sie abgelenkt, geschluckt oder wie auch immer.
»Der Engel?« fragte ich leise.
»Ja.«
»Er ist noch bei dir, nicht?«
»Ja.«
»Wie spürst du ihn?«
»Er gibt mir Vertrauen, John«, flüsterte sie. »Der Engel gibt mir richtiges Vertrauen. Es ist wunderbar, aber trotzdem so fremd. Deshalb möchte ich, dass du mich fest hältst.«
»Das ist schon okay.«
Lavinia lehnte ihren Kopf gegen meine linke Schulter. »Es ging alles so schnell. Ich konnte es selbst nicht begreifen. Er schoss, und da war etwas in mir. Gütiger Himmel, er hätte mich ermordet. Und dich danach auch.«
»Ja, das hätte er tatsächlich getan.«
»Und jetzt? Was machen wir jetzt?«
»Nichts werden wir machen. Du musst erst etwas zur Ruhe kommen. Ich kümmere mich um die Dinge.«
»Um den Henker?«
»Um den auch.«
Das hatte ich wirklich vor. Er durfte nicht entkommen. Ich hatte ihn selbst erlebt. Ich kannte seine Grausamkeit, und er nutzte die beiden Zustände oder Welten aus, um so brutal zuschlagen zu können. Er hatte nichts verlernt. Da brauchte ich mich nur umzudrehen und auf Richie zu schauen.
Lavinia brauchte Mut. »Wir schaffen es«, flüsterte ich. »Wir ziehen es beide durch. Die andere Seite wird nicht gewinnen…«
»Ich weiß nicht. Der Henker ist so stark und grausam. Ich kann mir auch keinen Grund denken, weshalb er mich verfolgt. Was habe ich mit diesem alten Henker zu tun? Mit diesen schrecklichen Bildern. Mit der gefesselten Frau, hinter der der Henker steht, um sie zu köpfen. Was ist das alles für ein verdammtes Grauen?«
Ich merkte, dass es ihr verdammt schwer fiel, die Vorgänge zu verarbeiten. Lavinia Kent zitterte am gesamten Körper, und ich hatte große Mühe, sie zu beruhigen.
Aber ich hatte auch einen Fehler begangen, das hörte ich sehr deutlich, als hinter mir ein Geräusch aufklang. Sofort dachte ich an Logan. Da sich Lavinia fast an mir festkrallte, musste ich sie zur Seite schieben, um loszukommen.
Ich wirbelte herum - und sah Logans Rücken!
Mein Treffer war wohl nicht so stark gewesen. Okay, ich bin kein Profi wie Suko auf diesem Gebiet. Craig Logan hatte die Zeit meiner Ablenkung genutzt und war wieder auf die Beine gekommen. Schwankend und stolpernd, aber trotzdem mit langen Schritten rannte er auf das zerstörte Fenster zu. Nichts hielt ihn dabei auf. Er duckte sich, stieß sich dabei ab, erreichte die Fensterbank und sprang nach draußen, bevor ich ihn packen konnte. Ich hätte ihn durch einen Schuss stoppen können, das jedoch widerstrebte mir, und so ließ ich ihn laufen.
Aber ich schaute durch das Fenster in den dunklen Garten hinein. Er war dicht vor der Mauer gelandet. Ich hörte noch sein Keuchen, seine Flüche, und dann rannte er weg. Ein paar Mal sah ich noch so etwas wie einen schwankenden Schatten, dann nichts mehr.
Nein, auch hier wollte ich nicht die Verfolgung aufnehmen, denn Lavinia Kent war wichtiger für mich. Sie war so etwas wie der Grund für das Erscheinen des Henkers und auch für das ihres Schutzengels. Sie musste ich in meiner Nähe haben, sonst hätte ich es nicht geschafft, den Fall aufzuklären.
Lavinia hatte sich auf eine Sessellehne gesetzt und blickte mir entgegen. Ich brauchte nur ihren Gesichtsausdruck zu sehen und wusste sofort, was sie meinte.
»Nein«, kam ich ihr zuvor. »Du brauchst
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