13 - Wo kein Zeuge ist
Phantombild hatte wenig Aussagekraft. Er fand, es sah aus wie jedermann und niemand. Der Verdächtige hatte irgendeine Art Kopfbedeckung getragen - taten sie das nicht alle? - und hatte Havers nach einem flüchtigen Blick darauf auch triumphierend verkündet, dass Robbie Kilfoyle eine EuroDisney-Baseballkappe trug, war das allein kein Verdachtsmoment. Lynley wäre jede Wette eingegangen, dass das Phantombild so gut wie nutzlos war, und er nahm an, die Crimewatch-Sendung würde das bestätigen.
Stewart schnappte sich die Fernbedienung des Videorekorders und schaltete den Fernseher ein. In einer Ecke des Bildschirms erschienen Datum und Uhrzeit, und das Bild zeigte den Ausschnitt einer Gasse, hinter der die Mauer von St. George's Gardens aufragte. Die Front eines Lieferwagens kam am Ende der Gasse ins Bild. Die Einmündung war etwa dreißig Meter von der Kamera, die die Gasse überwachte, entfernt. Das Fahrzeug hielt, die Scheinwerfer wurden ausgeschaltet, und eine Gestalt stieg aus. Sie trug eine Art Werkzeug in der Hand und verschwand hinter der Biegung der Mauer, vermutlich, um das Werkzeug irgendwo außerhalb des Kamerawinkels zum Einsatz zu bringen. Das Vorhängeschloss, welches das Tor zum Park nachts sicherte, dachte Lynley.
Die Gestalt kam zurück, zu weit weg und sogar auf dem bearbeiteten Film zu unscharf, um erkennbar zu sein. Sie stieg in den Wagen, der gleich darauf anrollte. Bevor er hinter der Mauer verschwand, stoppte Stewart das Video. »Schau dir dieses nette Bild an, Tommy«, sagte er. Er klang sehr zufrieden.
Und das zu Recht, dachte Lynley. Denn es war ihnen gelungen, die Beschriftung auf der Seite des Lieferwagens im Film sichtbar zu machen. Ein komplett lesbarer Schriftzug wäre ein Wunder gewesen, aber den hatten sie nicht. Ein halbes Wunder musste reichen. Drei abgeschnittene Schriftzeilen waren auszumachen:
waf
bile
che
Darunter stand eine Nummer: 873-61.
»Das Letzte sieht aus wie der Teil einer Telefonnummer«, bemerkte Nkata.
»Ich wette, der Rest ist ein Firmenname«, sagte Stewart. »Die Frage ist: Zeigen wir das bei Crimewatch ?«
»Wer bearbeitet den Lieferwagen?«, fragte Lynley. »Und wie gehen sie vor?«
»Sie versuchen, bei British Telecom etwas über diese paar Ziffern der Telefonnummer rauszukriegen, gehen das Firmenregister durch, um zu sehen, ob es was Passendes zu den Buchstaben gibt, und lassen die Suche bei der Kraftfahrzeugmeldestelle noch mal durchlaufen.«
»Das wird hundert Jahre dauern«, warf Nkata ein. »Aber wie viele Millionen Leute würden es sehen, wenn wir's im Fernsehen zeigen?«
Lynley überlegte, welche Folgen es hätte, wenn sie das Video zeigten. Millionen Menschen sahen die Sendung, und sie hatte schon Dutzende Male dazu beigetragen, die Auflösung eines Falls zu beschleunigen. Aber es barg auch Risiken, den Filmausschnitt landesweit auszustrahlen, nicht zuletzt die Gefahr, dem Mörder einen Blick in den Stand ihrer Ermittlungen zu gewähren. Denn es war durchaus wahrscheinlich, dass auch der Täter zusah und den Lieferwagen einer so gründlichen Reinigung unterzog, dass alle Spuren, die die Anwesenheit der Opfer im Wagen bewiesen, unwiederbringlich vernichtet wären. Oder ebenso gut könnte er den Transit auf der Stelle verschwinden lassen, ihn außerhalb Londons an einem von hundert Orten abstellen, wo er jahrelang nicht gefunden würde. Oder er stellte ihn irgendwo in eine Garage, was zum gleichen Ergebnis führen würde.
Die Entscheidung lag bei Lynley. Er beschloss, sie aufzuschieben. »Ich will in Ruhe darüber nachdenken«, sagte er und fuhr, an Winston gewandt, fort: »Sagen Sie den Crimewatch-Leuten, wir haben vielleicht etwas für sie, woran wir aber noch arbeiten.«
Nkata schien beunruhigt, ging aber zum Telefon. Stewart wirkte zufrieden, als er an seinen Schreibtisch zurückkehrte.
Lynley nickte Havers zu, und sein Blick sagte: Jetzt sind Sie dran. Sie griff nach einem, wie es aussah, brandneuen Notizbuch und folgte ihm aus der Einsatzzentrale.
»Gute Arbeit«, sagte er zu ihr. Ihm fiel auf, dass sie heute sogar passender gekleidet war als sonst. Sie trug ein Tweedkostüm und flache Lederschuhe. Der Rock hatte einen Fleck, und die Schuhe waren nicht geputzt, aber davon abgesehen war es ein bemerkenswerter Wandel für eine Frau, die sonst Schlabberhosen mit Gummizug trug und dazu T-Shirts mit hanebüchenen Sprüchen bevorzugte.
Sie zuckte die Schultern. »Ich bin durchaus in der Lage, einen Hinweis zu verstehen, wenn er mir um die
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