13 - Wo kein Zeuge ist
die Alarmanlage ging los. Ron rannte nach oben und sah den Jungen gerade noch aus dem Fenster aufs Dach springen.
Natürlich haben wir sofort die Polizei angerufen, aber er war längst verschwunden, als die Beamten hier ankamen.«
»Sie haben zwei Stunden gebraucht, bis sie hier waren«, warf ihr Mann grimmig ein. »Das bringt einen ins Grübeln.«
Gail machte ein betretenes Gesicht. »Nun, es gab bestimmt wichtigere Dinge ... einen Unfall oder ein ernstliches Verbrechen ... Nicht dass es für uns nicht ernst war, heimzukommen und jemanden in unserem Haus vorzufinden. Aber für die Polizei ...«
»Denk dir keine Ausreden für sie aus«, sagte ihr Mann. Er stellte die Schale mitsamt Löffel beiseite und wischte seinem Sohn mit dem Zipfel eines Geschirrtuchs den Brei vom Gesicht. »Die Staatsgewalt geht den Bach runter. Seit Jahren schon.«
»Ron!«
»Ist nicht persönlich gemeint«, erklärte er Nkata. »Es ist wahrscheinlich nicht Ihre Schuld.«
Nkata versicherte, dass er es nicht persönlich nahm, und fragte, ob sie das amtliche Kennzeichen des Lieferwagens der Polizei mitgeteilt hatten.
Das hatten sie, berichteten sie. Gleich bei ihrem Anruf. Als die Polizei endlich aufgetaucht war - »Das muss gegen zwei Uhr morgens gewesen sein«, sagte Ritucci -, war es in Gestalt zweier weiblicher Constables. Sie hatten einen Bericht aufgenommen und sich bemüht, mitfühlend zu wirken. Sie hatten versprochen, sich wieder zu melden, und den Rituccis gesagt, sie sollten in einigen Tagen auf die Wache kommen und ihr Protokoll für die Versicherung abholen.
»Und das war alles«, berichtete Gail Ritucci Nkata.
»Die haben keinen Finger gerührt«, fügte ihr Mann hinzu.
Vor ihrem Aufbruch nach Upper Holloway, wo sie mit Lynley verabredet war, machte Barbara Havers an der Erdgeschosswohnung Halt, die sie jetzt schon seit Ewigkeiten mit beharrlich geradeaus gerichtetem Blick passiert hatte. In der Hand hielt sie die Friedensgabe, die sie an Barry Minshalls Stand erworben hatte: Der Bleistift-Geldschein-Trick, mit dem man angeblich seine Freunde amüsieren und erfreuen konnte.
Sowohl Taymullah Azhar als auch Hadiyyah fehlten ihr. Sie vermisste die unkomplizierte Freundschaft, die sie verband, die Stippvisiten auf einen Plausch, die sie einander abstatteten, wann immer ihnen danach war. Sie waren keine Familie. Sie konnte nicht einmal behaupten, dass sie so etwas Ähnliches wie ihre Familie waren. Aber sie waren ... ein Stück Vertrautheit und ein Trost. Beides wollte sie zurück, und sie war gewillt, zu Kreuze zu kriechen, wenn es erforderlich war, um die Dinge zwischen ihnen wieder in Ordnung zu bringen.
Sie klopfte an die Tür und rief: »Azhar? Ich bin's. Haben Sie einen Moment Zeit?« Dann trat sie zurück. Ein schwaches Licht schimmerte durch die Vorhänge, also wusste sie, dass sie wach waren, vielleicht gerade in ihre Bademäntel schlüpften oder Ähnliches.
Niemand antwortete. Sie haben Musik laufen, sagte sie sich. Ein Radiowecker, der nicht ausgeschaltet worden war, nachdem er den Schlafenden geweckt hatte. Sie war zu zaghaft gewesen. Also klopfte sie nochmals, dieses Mal lauter. Sie horchte und fragte sich, ob das, was sie hörte, das Rascheln eines Vorhanges war, weil jemand hindurchlinste, um zu sehen, wer so früh am Morgen schon anklopfte. Sie schaute zum Fenster, betrachtete den Stoff, der die Glastüren von innen bedeckte. Nichts.
Auf einmal wurde ihr die Sache peinlich. Sie trat einen weiteren Schritt zurück und sagte leiser: »Na ja, dann eben nicht«, und ging zu ihrem Auto. Wenn er es so wollte ... Wenn sie ihn so hart unter der Gürtellinie getroffen hatte mit ihrer Bemerkung über den Abgang seiner Frau ... Aber sie hatte nur die Wahrheit gesagt, oder? Und davon abgesehen, hatten sie beide mit unfairen Mitteln gekämpft, und er war nicht den Gartenpfad heruntergetrottet gekommen, um sich bei ihr zu entschuldigen.
Sie zwang sich, die ganze Angelegenheit mit einem Schulterzucken abzutun, und musste noch mehr Entschlossenheit aufbieten, um zu gehen, ohne sich umzuwenden und festzustellen, ob einer von den beiden sie hinter einer Gardine hervor beobachtete. Sie ging zu ihrem Auto, das sie an der Parkhill Road hatte abstellen müssen, denn dort hatte sie bei ihrer gestrigen Heimkehr den einzigen Parkplatz gefunden.
Von da fuhr sie zu der Gesamtschule in Upper Holloway, deren Adresse Lynley ihr durchgegeben hatte, als sie noch im Bett lag, und versuchte, sich mit dem unwiderstehlichen Oldie von Diana
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