13 - Wo kein Zeuge ist
wird die Entscheidung über den Streetworkerjob fällen, und sie kennt manche Leute besser als andere.«
Aus dem Bentley rief Lynley die Polizeiwache in South Hampstead an und setzte die Kollegen ins Bild: Der Leichnam, der an diesem Morgen südlich der Themse entdeckt worden und möglicherweise Opfer eines Serientäters war ... Wenn die Kollegen ihm eine Unterhaltung mit einem gewissen Reverend Savidge gestatten wollten, der sie vermutlich bald wegen eines vermissten Jungen anrufen werde ... Alles wurde arrangiert, während er den Fluss überquerte und diagonal durch die Stadt fuhr.
Er fand Bram Savidge an seiner Wirkungsstätte, die sich als ehemaliger Elektroladen entpuppte. Der Name »Der heiße Draht« war sparsamerweise in das Motto der Kirche integriert worden: »Der heiße Draht zum Herrn«. In der Swiss-Cottage-Gegend der Finchley Road gelegen, schien der Laden teils Gotteshaus, teils Suppenküche zu sein. Im Moment diente er als Letzteres.
Als Lynley eintrat, fühlte er sich wie ein übergewichtiger Nudist in einer Menschenmenge in Wintermänteln: Er war der einzige Weiße im Saal, und die Schwarzen musterten ihn und signalisierten kein herzliches Willkommen. Er fragte, ob Reverend Savidge zu sprechen sei, und eine Frau, die einen würzig duftenden Eintopf an die Hungrigen ausgegeben hatte, ging ihn holen. Als Savidge erschien, fand Lynley sich Auge in Auge mit einem knapp zwei Meter großen afrikanischen Koloss. Das hatte er kaum erwartet, nach dem Privatschultimbre der Stimme, die aus dem Telefonlautsprecher in Ulrike Ellis' Büro gedrungen war.
Reverend Savidge war mit einem rot-orange-schwarzen Kaftan bekleidet, und an den Füßen trug er grobe Sandalen, aber trotz des Winterwetters keine Socken. Eine verschlungen geschnitzte Holzkette lag auf seiner Brust, und ein einzelner Ohrring aus Perlmutt, Bein oder etwas Ähnlichem baumelte genau vor Lynleys Augen. Man hätte meinen können, Savidge sei gerade mit dem Flugzeug aus Nairobi angekommen, nur dass der gestutzte Bart ein Gesicht umrahmte, das nicht so dunkel war, wie man erwartet hätte. Abgesehen von Lynley war seines das hellste Gesicht im Raum.
»Sie sind von der Polizei?« Wieder dieser Akzent, der nicht nur eine Privatschule und einen Universitätsabschluss verriet, sondern auch, dass Savidge in einer Gegend aufgewachsen war, die weitaus privilegierter war als sein jetziges Umfeld. Seine Augen - haselnussbraun, stellte Lynley fest - glitten über seinen Anzug, das Hemd, die Krawatte und die Schuhe. Der Reverend traf seine Einschätzung in Sekundenschnelle, und sie war nicht gut. Auch egal, dachte Lynley. Er zeigte seinen Dienstausweis und fragte, ob sie irgendwo ungestört reden könnten.
Savidge führte ihn zu einem Büro im rückwärtigen Teil des Gebäudes. Auf dem Weg dorthin mussten sie sich zwischen langen Tischen hindurchschlängeln, wo Frauen in ähnlicher Kleidung wie Savidges das Essen austeilten. Vielleicht zwei Dutzend Männer und halb so viele Frauen saßen dort und schlangen hungrig den Eintopf hinunter, tranken aus kleinen Milchkartons und strichen Butter auf Brot. Leise Musik lief im Hintergrund, ein afrikanischer Gesang.
Savidge schloss die Bürotür und schnitt damit alle Geräusche ab. »Scotland Yard«, sagte er. »Warum? Ich habe die örtliche Wache angerufen. Sie sagten, es käme jemand vorbei. Ich habe angenommen ... Was ist los? Was hat das alles zu bedeuten?«
»Ich war in Ms. Ellis' Büro, als Sie dort angerufen haben.«
»Was ist mit Sean?«, verlangte Savidge zu wissen. »Er ist nicht nach Hause gekommen. Sie müssen doch irgendetwas wissen. Sagen Sie es mir.«
Lynley registrierte, dass der Reverend es gewöhnt war, dass man ihm augenblicklich gehorchte. Und es gab kaum einen Zweifel, warum das so war: Er dominierte durch seine schiere Größe. Lynley konnte sich nicht entsinnen, je einem Menschen begegnet zu sein, der so mühelos eine solche Autorität ausstrahlte.
Er fragte: »Sean Lavery wohnt bei Ihnen, soweit ich weiß?«
»Ich möchte jetzt wissen ...«
»Reverend Savidge, ich brauche ein paar Informationen. So oder so.«
Sie maßen ihre Willensstärke mit einem kurzen Blickduell, bevor Savidge sagte: »Bei mir und meiner Frau. Ja. Sean wohnt bei uns. In Pflege.«
»Seine eigenen Eltern?«
»Seine Mutter ist im Gefängnis. Versuchter Polizistenmord.« Savidge unterbrach sich, als wolle er Lynleys Reaktion auf diese Eröffnung beobachten. Lynley achtete sorgsam darauf, keine zu zeigen. »Sein Vater
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