13 - Wo kein Zeuge ist
arbeitet als Mechaniker drüben in North Kensington. Die Eltern waren nie verheiratet, und der Vater hat keinerlei Interesse an dem Jungen bekundet, weder vor noch nach der Verhaftung der Mutter. Als sie ihre Strafe antrat, kam Sean in die Obhut des Fürsorgesystems.«
»Und wie haben Sie ihn bekommen?«
»Ich habe seit fast zwei Jahrzehnten Jungen in mein Haus aufgenommen.«
»Jungen? Haben Sie noch weitere Pflegekinder?«
»Im Augenblick nicht. Nur Sean.«
»Warum?«
Reverend Savidge ging zu einer Thermoskanne, aus der er sich etwas Wohlriechendes, Dampfendes einschenkte. Er bot es Lynley an, der ablehnte. Savidge trug den Becher zu seinem Schreibtisch, nahm Platz und wies Lynley mit einem Nicken einen Stuhl zu. Auf dem Schreibtisch lag ein Block, auf dem herumgekritzelt worden war, manches war durchgestrichen, anderes unterstrichen oder eingekreist. »Predigt«, erklärte Savidge, dem Lynleys Blick offenbar nicht entgangen war. »Es fällt mir nicht leicht.«
»Die anderen Jungen, Reverend Savidge?«
»Ich bin jetzt verheiratet. Oni, meine Frau, spricht noch nicht gut Englisch. Sie fühlte sich überfordert und ein wenig überrumpelt, also habe ich drei der Jungen anderweitig untergebracht. Vorübergehend, bis Oni sich eingewöhnt hat.«
»Aber nicht Sean Lavery. Ihn haben Sie nicht anderweitig untergebracht. Warum?«
»Er ist jünger als die übrigen. Es fühlte sich nicht richtig an, ihn wegzugeben.«
Lynley fragte sich, was sonst sich nicht richtig angefühlt haben mochte. Vielleicht die neue Mrs. Savidge, dachte er unwillkürlich, mit ihren unzureichenden Englischkenntnissen und allein zu Hause mit einer Schar halbwüchsiger Jungen.
»Wie kam Sean zu Colossus?«, fragte er. »Es ist von hier aus eine ziemliche Entfernung für ihn.«
»Die Gutmenschen von Colossus kamen zur Kirche. Sie nannten das Streetwork, aber es lief darauf hinaus, dass sie Reklame für ihr Programm machen wollten. Eine Alternative zu dem Sumpf, in den ihrer Meinung nach offenbar jedes nicht-weiße Kind unweigerlich geraten muss, wenn es auch nur ansatzweise die Chance dazu bekommt und nicht von Colossus gerettet wird.«
»Das heißt, Sie halten nicht viel von Colossus?«
»Unsere Gemeinschaft kann sich selbst von innen heraus helfen, Superintendent. Die Situation der Menschen wird sich nicht verbessern, indem ihnen die Hilfe einer Gruppe liberaler, von Schuldgefühlen zerfressener Sozialaktivisten aufgezwungen wird. Die sollten lieber aufs Land zurückgehen und dort Hockey oder Cricket spielen.«
»Doch irgendwie ist Sean Lavery dort gelandet, trotz Ihrer Bedenken.«
»Mir blieb keine andere Wahl. Und Sean ebenso wenig. Sein Sozialarbeiter hat das alles entschieden.«
»Aber als sein Pflegevater haben Sie doch ein gewisses Mitspracherecht bei der Frage, wie er seine Freizeit verbringt.«
»Unter anderen Umständen. Aber es gab einen Vorfall mit einem Fahrrad.« Savidge führte aus, dass es nichts weiter als ein Missverständnis gewesen sei. Sean hatte das teure Mountainbike eines Jungen aus der Nachbarschaft genommen. Er glaubte, er habe die Erlaubnis gehabt, es zu fahren; der Junge war anderer Ansicht. Er meldete es als gestohlen, und die Polizei fand es in Seans Besitz. Die Situation wurde als Erstlingsstraftat eingestuft, und Seans Sozialarbeiter plädierte dafür, jede Neigung zu kriminellem Verhalten im Keim zu ersticken. So kam Colossus ins Spiel. Savidge hatte der Idee anfangs zugestimmt, wenn auch zögernd: Von all seinen Pflegesöhnen war Sean der erste, der polizeiauffällig geworden war. Er war auch der erste, der die Schule schwänzte. Colossus sollte all das angeblich in Ordnung bringen.
»Wie lange geht er schon dorthin?«, fragte Lynley.
»Knapp ein Jahr.«
»Und ist er regelmäßig dort?«
»Das muss er. Das gehört zu seinen Bewährungsauflagen.« Savidge hob den Becher und trank. Er tupfte sich sorgsam den Mund ab, dann fuhr er fort: »Sean hat von Anfang an gesagt, dass er dieses Fahrrad nicht gestohlen hat, und ich habe ihm geglaubt. Auf der anderen Seite möchte ich verhindern, dass er auf die schiefe Bahn gerät, und Sie und ich wissen, dass das passiert, wenn er weiterhin die Schule schwänzt und sich nicht für irgendetwas engagiert. Soweit ich es beurteilen kann, fiebert er Colossus nicht gerade Tag für Tag entgegen, aber er geht hin. Er hat die Einstufungsphase erfolgreich abgeschlossen, und inzwischen spricht er sogar ganz positiv von dem Computerkurs, den er jetzt macht.«
»Wer war
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