130 - Der Wahnsinnige
die wir einschlagen müssen, um zur Tempelhalle zu kommen. Diese Treppe hinauf, den großen Gang rechts entlang und dann müßten wir zu einer Haupttreppe kommen, die uns ein ganzes Stück nach oben führt, bis in die Nähe der Tempelhalle. Komm, Unga!"
Er brauchte es dem Cro Magnon nicht zweimal zu sagen. Die beiden Männer nahmen den Weg, den Dorian beschrieben hatte. Das geisterhafte bleiche Licht, das den ganzen Tempel erhellte, flackerte manchmal. Es knisterte und knackte in den verschiedenfarbigen glatten Steinwänden, -böden und - decken. Haarfeine Risse breiteten sich aus. Die Temperatur stieg alle zwei oder drei Minuten um ein Grad. Schon lief Dorian Lind Unga der Schweiß von der Stirn.
Sie waren beide durchtrainiert und hatten eine ausgezeichnete Kondition. Bei der Haupttreppe angekommen, eilten sie nach oben. Die Treppe verlief im Zickzack von Etage zu Etage und führte fast fünfundzwanzig Meter nach oben.
Dorian und Unga hatten nicht einmal die Hälfte zurückgelegt, als ein Krächzen an ihre Ohren drang.
Eine Kreatur mit Lederhautflügeln und einem spitzen Vogelkopf, in dem rote Augen glühten, stürzte den Treppenschacht herunter. Die Flügel V-förmig zurückgelegt, raste sie auf Dorian und Unga zu. Der Dämonenkiller duckte sich. Unga schlug mit dem Donnerkeil zu. Der gewaltige Krach über seinem Kopf ließ fast Dorians Trommelfell platzen.
Ungas Lippen bewegten sich, aber Dorian hörte ihn nicht. Der Cro Magnon deutete nach oben. Dorian nickte und eilte weiter. Es dauerte noch eine Weile, bis er die Geräusche wieder hören konnte. Als Dorian und Unga auf dem obersten Treppenabsatz standen, prasselte, knackte und krachte es. Die untere Hälfte der schwarzen Steintreppe brach ein. Dorian erschrak und lief weiter. Keuchend kam er an eine Abzweigung. Zwei Dämonen lagen vor ihm. Der eine Dämon war eine uralte Mumie. Bestimmt hatte er sich vor seinem Ableben ein jugendliches Äußeres gegeben; aber jetzt, im Tod, zeigte er seine wahre Gestalt. Der zweite Dämon gab noch Geräusche von sich, obwohl auch er nicht mehr lebte. Er hatte seinen Kehlsack aufgeblasen, und aus diesem entwich die Luft mit schnarchenden Tönen.
Es handelte sich um Kare Schnarchsack, Croyds Stiefbruder.
„Das war Croyd!" rief Unga laut, damit Dorian ihn verstehen konnte. „Croyd mit dem Messer. Seine Bowieklinge ist also auch für Dämonen tödlich."
Das hatte Dorian sich von Anfang an gedacht. Kein Dämon würde sich eine Waffe zulegen, die seinesgleichen nichts anhaben konnte.
Der Dämonenkiller warf noch einen letzten, flüchtigen Blick auf die Dämonenleiche. Es wunderte ihn nun doch, daß Chakravartin mit einer ganzen Dämonenschar in den Hermes-Tempel eingezogen war. Wie paßte das zusammen?
Dorian nahm den linken Gang und eilte, immer von Unga gefolgt, drei weitere Etagentreppen hoch. Sie kamen an dem Wohntrakt vorbei, den sich der Dämonenkiller eingerichtet hatte und der sich direkt unter der Tempelhalle befand.
Dann sahen Dorian und Unga ein Portal, das seltsame, reliefartige Zeichen zeigte - schwarz auf weißem Grund. Das Portal war von undurchsichtiger Schwärze. Es war der Zugang zur Tempelhalle.
Dorians Ohren hatten nun zu klingen aufgehört. Er konnte wieder recht gut hören. Es war ihm, als vernahm er in der Ferne verworrenen Lärm und dämonische Schreie.
„Hörst du das, Unga?" fragt er.
Er wußte, daß die Sinne des Cro Magnon schärfer waren als die seinen.
Unga lauschte, den Donnerkeil in der Hand. Ungas Hemd war durchgeschwitzt nach dem raschen Lauf, genauso wie Dorians. Die Temperatur betrug jetzt über dreißig Grad.
„Nur ganz undeutlich", sagte Unga. Die Akustik im Tempel hat sich geändert und leitet den Schall nicht mehr richtig weiter. Hier ist nichts mehr so, wie es sein sollte."
Dorian bedeutete Unga mit einem Wink, ihm zu folgen. Sie traten durch das Portal, und im nächsten Augenblick standen sie in der Tempelhalle - in der Schaltzentrale.
Immer wieder war Dorian von diesem mächtigen Raum beeindruckt. Zwanzig Meter lang war die Tempelhalle, das Allerheiligste des Hermes-Trismegistos-Tempels und fast ebenso breit und zehn Meter hoch. Wände, Decke und auch Fußboden bestanden aus Steinplatten, die fremdartige Schriftzeichen aufwiesen. Diese Steinplatten, 36.225 an der Zahl, waren die Bücher des Hermes Trismegistos, die all sein magisches Wissen und seine Kenntnisse enthielten. Dorian hatte es gelernt, die Schriftzeichen zu lesen. Aber die Bücher waren so schwer
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