1307 - Die toten Frauen von Berlin
nicht.
»Bist du jetzt schlauer, John?«
»Kaum.«
»Ich auch nicht.« Harry packte die Fotos wieder zusammen und ließ sie im Umschlag verschwinden.
Es war nicht leicht für uns, hier das richtige Maß zu finden. Wo sollten wir anfangen? Wie sollten wir es angehen? Beim Plan bleiben und durchs Nicolaiviertel ziehen?
Das war eine Möglichkeit. Viel traute ich ihr nicht zu. Es ging mir gegen den Strich, weil dieser Plan mehr auf einen Zufall setzte. Sicherlich waren die verschwundenen Frauen auch zur Fahndung ausgeschrieben. Die Polizisten in Berlin besaßen ihre Fotos und waren gut informiert. Warum sollte die eine oder andere Verschwundene ausgerechnet uns über den Weg laufen, immer vorausgesetzt, dass sie noch am Leben waren?
»Was grübelst du, John?«
Ich hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Irgendwie komme ich mir überflüssig vor.«
»Warum?«
»Weil alles so verdammt vage ist. Wir haben nichts, wo wir den Hebel ansetzen können.«
»Stimmt leider.«
Ich sprach weiter. »Außerdem weiß ich nicht oder bin mir nicht sicher, ob das Verschwinden der Frauen uns überhaupt tangiert. Beruflich, meine ich. Dir muss ich nicht erzählen, wofür wir eigentlich zuständig sind, Harry.«
Stahl hob die Hand. »Zu diesem Ergebnis kann man leicht kommen, das gebe ich zu. Aber man denkt anders darüber, John. Es sind mit deiner Landsmännin sechs Frauen verschwunden. Und das geschah in einem sehr kurzen Zeitraum. Da lagen keine Wochen dazwischen. Das deutet meiner Ansicht nach auf einen Plan hin, den sich jemand ausgedacht hat.«
»Schön, Harry. Und wer?«
»Wenn ich das wüsste.« Er beugte sich näher zu mir heran. »Irgendjemand, der mit dem Teufel im Bunde steht, sage ich mal. Ein Unbekannter, der einen großen Plan verfolgt. Möglicherweise auch eine Unbekannte. Wer kann das schon wissen?«
Ich streckte die Beine aus und schaute zum Eingang hin. Zwei Frauen erschienen dort. Sie blieben stehen und posierten für zwei Fotografen. Dann gingen sie weiter, und mein Blick verlor sich.
»Sechs verschwundene Frauen, Harry. Spurlos. Es gibt keine Leichen. Auch keine Hinweise. Das kann ich irgendwie nicht begreifen.«
»Es ist die Wahrheit, und wir müssen sie finden. So schnell wie möglich. Einige Reporter haben schon Wind von der Sache bekommen. Zwar fehlen die großen Schlagzeilen auf den ersten Seiten, die werden von anderen Ereignissen überschattet, aber in kleineren Artikeln wurde es schon angedeutet. Und irgendwo müssen die Frauen ja sein.«
»Ja, das ist alles wahr.« Ich war nachdenklich geworden. Mit leiser Stimme sagte ich: »Die Spree, die Havel, die Kanäle, die Seen in der Umgebung. Es gibt viele Möglichkeiten.«
Harry nickte mir zu. »Alles wurde abgesucht, John. Glaube mir, wir haben hier gut gearbeitet. Aber wir sind zu keinem Resultat gekommen. Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun.«
»Oder mit einem verdammt schlauen Gegner.«
»Auch das, wenn du dahinter eine einzelne Person siehst. Der Fall darf nur nicht zu einem Politikum werden. Noch wurde alles unter dem Deckel gehalten, aber das wird nicht so bleiben. Ich weiß es. Das kann noch zwei, drei Tage gut gehen, dann ist es vorbei.«
»Es gibt einen Grund. Warum verschwinden so viele Frauen? Was hat man mit ihnen getan?«
»Den Grund kenne ich nicht.«
»Schade.«
»Wieso?«
»Ich hatte mir von dir einen Kick erhofft.«
Obwohl mir nicht zum Lachen zu Mute war, tat ich es doch. »Sorry, Harry, aber ich bin kein Supermann. Da werden wir wohl gemeinsam ins Leere stochern.«
»Und auch du wirst Druck bekommen.«
»Richtig. Aber den kann ich aushalten. Ich möchte nur irgendwo anfangen. So toll es hier in der Hotelhalle auch ist, aber wir sollten etwas unternehmen.«
»Ich bin dafür.« Er rieb seine Hände. »Und was?«
»Mit bestimmten Leuten sprechen. Die Frauen haben irgendwo gewohnt. Man kennt sie. Es gibt Freunde, Verwandte, Bekannte. Menschen, die die Verschwundenen gekannt haben. Auch wenn du sagst, dass das schon getan wurde, möchte ich trotzdem damit anfangen. Es kann sich ja etwas geändert haben.«
»Besser als hier herum zu sitzen ist es immer«, meinte auch Harry. »Dann überlasse ich es dir, wo wir beginnen.«
»Bei der letzten verschwundenen Frau.«
»Eve Sandhurst also.«
»Genau.«
»Gut. Sie hatte hier allerdings keine Verwandte. Sie wohnte auch nicht bei einer Freundin, sondern allein.«
»Wo?«
»In Wedding.«
»Gute Gegend?«
»Sie war mal schlechter. Wedding grenzt hier an
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