1307 - Die toten Frauen von Berlin
sehen. Sie wollte ihn auch nicht sehen.
Außerdem besaß sie nicht mehr die Kraft, sich in die Höhe zu stemmen. Die verdammte Lähmung hatte sie vom Kopf bis zu den Füßen erwischt. Es war aus, sie konnte nicht mehr. Sie brauchte Zeit, um sich zu erholen, und genau die würde man ihr nicht geben.
Der Regen um Eve herum blieb. Sie hörte das Aufschlagen der Tropfen in ihrer Nähe wie kleine Trommelschläge.
Jemand stieß sie an. An der linken Hüfte spürte sie den Stoß. Er tat nicht weh. Der andere hatte ihr wohl nur zeigen wollen, dass er noch vorhanden war. Sie hörte auch nichts. Sie sah nichts. Sie wollte beides nicht. Sie wünschte sich weit weg. Sie hoffte, aus diesem Albtraum zu entwischen, um endlich durchatmen zu können.
Es blieb nicht bei dem einen Tritt. Sie spürte Finger an ihrem Körper. Jemand tastete sie ab. Das leise Lachen drang trotz der Regengeräusche an ihre Ohren.
Sehr plötzlich wurde sie auf die Beine gezogen. Eve konnte den Schrei nicht vermeiden, und sie wusste auch, dass die Hände ihr ein Entkommen unmöglich machten. Sie waren einfach zu stark. Bisher hatte sie noch nicht gesehen, wer sich für den Überfall verantwortlich zeigte. Das änderte sich in den nächsten Sekunden, da wurde sie mit einer schnellen Bewegung herumgezerrt.
Eve starrte in ein Gesicht!
Nein, das war kein Gesicht. Das war nur ein Teil davon. Sie sah nur die Augen. Ansonsten war alles verdeckt. Der Mann hatte eine Wollmütze über seinen Kopf gezogen. Das Material war nass geworden und hatte einen leicht öligen Glanz erhalten.
Augen die sie anstarrten!
Böse Augen. Darin lag eine Kälte, die sie schaudern ließ.
Mörderaugen!
Ein schrecklicher Gedanke zuckte in ihr hoch. Sie dachte an die Zeitungsberichte von den verschwundenen Frauen und Mädchen.
Die toten Frauen von Berlin.
So hatte man geschrieben, obwohl man keine Frauenleiche gefunden hatte. Aber mindestens fünf Frauen waren verschwunden und nicht wieder aufgetaucht.
Und jetzt ich?
Eve wusste nicht, wie lange das Augenpaar sie angestarrt hatte.
Sicherlich nur Sekunden. Ihr aber war die Zeit lang wie Minuten vorgekommen, und sie wunderte sich darüber, wie cool sie dem Blick begegnete. Trotz der Angst.
Und sie fand sogar die Sprache wieder. »Was… was … wollen Sie?«, stammelte Eve.
»Dich!«
Etwas erschien vor ihren Augen. Es war groß, es war dunkel, und es war verdammt hart.
Es traf ihren Kopf!
Bei Eve Sandhurst erloschen die Lichter…
***
Irgendwann wurde sie wach!
Eve Sandhurst wusste nicht, wo sie sich befand. Um sie herum war es dunkel. Sie spürte auch die Schmerzen in ihrem Kopf, die ihr Denken beeinträchtigten. Sie hatte zuerst gedacht, tot zu sein, aber eine Tote denkt nicht, sie spürt auch keine Schmerzen.
Sie stöhnte. Die Laute kamen ihr fremd vor, obwohl sie von ihr stammten. Das Licht war ausgeknipst worden, und man hatte es auch nicht wieder eingeschaltet.
Sie lag auf dem Boden, der so verdammt hart war. Sie schaute in die Höhe und hielt dabei die Augen so weit wie möglich offen, ohne jedoch etwas erkennen zu können. Die Welt um sie herum war durch tiefe Dunkelheit verborgen.
Eve lag auf dem Rücken. Ihr Kopf schmerzte besonders stark an der linken Stirnseite. Dort musste der Hieb sie getroffen haben.
Als sie daran dachte, fiel ihr wieder ein, was sie in den letzten Augenblicken vor der Bewusstlosigkeit gesehen hatte. Einen Mann, jedoch kein Gesicht, weil es durch eine Mütze verdeckt worden war. Dafür erinnerte sie sich an die Augen. An ein Paar, das sie so kalt und grausam angeschaut hatte.
Bei diesem Gedanken begann sie zu frieren. Eve lauschte dem eigenen Herzschlag. Sie merkte nichts von ihrer Umgebung. Es war so bodenlos finster. In ihrer Starre kam sie sich vor, als hätte man sie gefesselt.
Es traf nicht zu.
Sie konnte sich bewegen.
Die Arme, die Beine. Sie zog beides an und streckte es auch wieder aus. Es war schon okay. Keine weiteren Probleme mit dem Körper. Nur eben mit dem Kopf, in dem sich die Schmerzen festgesetzt hatten.
Ihr war auch klar, dass sie nicht länger auf dem rauen und kalten Boden liegen bleiben konnte. Eve war eine Frau, die sich nicht so schnell in ihr Schicksal ergab. Wenn es nur eine winzige Möglichkeit gab, ihm zu entkommen oder es zu ändern, dann griff sie zu.
Das hatte sie immer so gehalten, und das würde sie auch jetzt tun.
Die ersten Bewegungen des Körpers konnte sie beim besten Willen nicht als normal bezeichnen. Sie waren einfach zu schwach, und sehr
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