1324 - Der Große Bruder
freundlichen Gesicht. „Wenn wir dem Fehler im Schaltvorgang nicht bald auf die Spur kommen, müssen wir uns tatsächlich mit einem Mutanten behelfen."
Es zuckte um ihren Mund, von dessen weich geschwungenen Lippen Notkus Kantor öfter träumte, als seinem Seelenfrieden gut tat. Sie hatte Hartes, Unfreundliches auf der Zunge. Aber in letzter Sekunde siegte die Vernunft, wenn schon das Herz kaum mehr ein Wort mitzureden hatte, so aufgeregt, wie sie im Augenblick war. Vielleicht kam es ihr auch gelegen, daß Notkus das Thema gewechselt hatte. Sie wußte, wohin solche Streitereien führten.
Sie strich sich mit beiden Händen die leichte Kunststoffmontur glatt. Die Geste hatte etwas Endgültiges.
„Die Korrelation ist nicht besser als die bisherigen", sagte sie. „Stellenweise werden Werte bis null Komma sechs erreicht, aber mehr ist nicht drin. Es gibt eine einsame Spitze, die bis null Komma neun hinaufreicht. Darauf sollten wir uns vielleicht konzentrieren."
Sie betätigte eine Taste an der Konsole, an der sie bisher gearbeitet hatte. Neben der Videofläche mit den Datensäulen entstand eine zweite. Sie zeigte die Kreuzkorrelation, von der die Rede war, als Diagramm. Die dargestellte Kurve hatte einen unebenen Verlauf, der wie ein mäandernder Fluß zu beiden Seiten des 0,5-Wertes der Ordinate entlangführte. Lediglich zum rechten Ende des Diagramms hin gab es einen deutlichen Anstieg. Die Darstellung endete mit der Null-Kommaneun-Spitze, von der Enza Mansoor gesprochen hatte.
„Am hochfrequenten Ende des Spektrums", sagte Notkus Kantor nachdenklich.
„Das bedeutet, daß wir wahrscheinlich mehr Erfolg hätten, wenn wir mit höheren Frequenzen arbeiteten", kommentierte Enza Mansoor.
„Wir brauchen einen neuen Oszillator", sagte Notkus.
„Wir haben noch eine zusätzliche Dekade zum Spielen", bemerkte Enza. „Wenn wir darüber hinauswollen, geraten wir an die Hamiller-Schwelle."
„Das bedeutet zusätzlichen Energieaufwand", knirschte Notkus. „Wir arbeiten jetzt schon mit dem leistungsfähigsten Mikrogenerator, der an Bord aufzutreiben war."
„Leistungsfähigere Mikros können nicht mehr nach demselben Prinzip gebaut werden", sagte Enza. „Da müssen wir uns schon etwas Neues einfallen lassen."
„Hypertronzapfer."
„Miniaturisiert. Dafür können wir uns ein Patent schreiben lassen. So etwas gibt's nämlich noch nicht."
Notkus Kantor kehrte zu dem Platz zurück, an dem er zuvor gesessen hatte.
Niedergeschlagen ließ er sich in den Sitz fallen. Die Worte des kurzen Gesprächs waren schnell gekommen, als gehörten sie zu einem Text, den die beiden Gesprächspartner gründlich auswendig gelernt hatten. Dabei handelte es sich um Gedanken im Original.
Innerhalb knapp einer Minute hatten Enza Mansoor und Notkus Kantor ein Problem durchdiskutiert, über das andere sich stunden- oder gar tagelang den Kopf zerbrochen hätten.
Das war das - mittlerweile offene - Geheimnis des Mansoor/Kantor-Teams. Das Wort des einen wirkte als Denkstimulus für den anderen. Synergistisch nannte man diese Art der Zusammenarbeit. Jeder für sich waren Notkus und Enza Wissenschaftler von akzeptabler Begabung. Gemeinsam entwickelten sie sich zu Genies. Es stand noch nicht fest, ob Synergie eine paranormale Fähigkeit war, oder ob es sich hier lediglich um einen besonders prägnanten Fall menschlichen Aufeinandereingespieltseins handelte. Für die erstere Hypothese sprach der Umstand, daß Enza und Notkus sich nur dann synergistisch verhielten, wenn es um fachliche Dinge ging. Im Privatleben fehlte ihnen jegliche Fähigkeit, sich aufeinander einzustellen.
„Dazu haben wir keine Zeit mehr", stellte Notkus fest. „Die Flotte aus ESTARTU wird im Lauf der nächsten Tage erwartet."
„Deswegen sind die Mutanten hier", sagte Enza. „Dafür haben wir sie bestellt."
„Keine Mutanten", verbesserte Notkus. „Paratensoren."
„Meinetwegen", murrte Enza. „Hauptsache, sie stehen zur Verfügung."
*
„Operation SOTHOM", sagte Sid Avarit. „Ich bin darüber informiert."
Waylon Javier musterte den schmächtigen Anti, der so hastig sprach, mit nachdenklichem Blick. Er nickte.
„Ja, ich weiß", sagte er. „Du warst dabei. Seit jenem Einsatz ist der GOI bekannt, daß Sotho Tyg Ian auf Nachschub aus der Mächtigkeitsballung ESTARTU wartet. Er plant einen Schlag gegen die Eastside. Er kann es sich nicht mehr leisten, den Blues ihre Unabhängigkeit zu belassen. Seit anderthalb Jahrzehnten weigern sie sich, die Lehre vom
Weitere Kostenlose Bücher