1328 - Die Harmonie des Todes
gegenteiliges Pendant.
Mit der Zeit fühlte sich Salaam Siin von den estartischen Lehren immer mehr abgestoßen. Er wußte aber, daß er nichts davon je nach außen dringen lassen durfte.
Also behielt er für sich, was ihm durch den Sinn ging - und in der Folge erwarb er einen Ruf als zwar exzellenter, aber verschlossener Sänger. Als junger Ophaler war er außerstande gewesen, seine Gesänge ohne rechten Glauben vorzutragen. Heutzutage lagen die Dinge anders. Ebenso gut wie den Permanenten Konflikt hätte er auch die Flugrouten der Enerpsiraumer verherrlichen können - hier war also nicht mehr das Problem. Ihm machte vielmehr zu schaffen, daß sein Gesang tatsächlich zur Verbreitung des estartischen Gedankenguts beitrug.
In der folgenden Zeit wurden er und Kaleng Proo vorwiegend während der Spiele des Lebens eingesetzt. Nicht zuletzt dank ihres aufblühenden Talents gewann die Schule Belku namtal an Einfluß und ließ die zehn anderen Schulen, die außerdem über beträchtliches Ansehen verfügten, hinter sich.
Salaam Siin gewann mit zunehmender Erfahrung auch die Überzeugung, daß er Kaleng Proo das Wasser reichen konnte. Er verfügte zwar nicht über die psionische Kraft seines Kontrahenten, doch war der höhere Grad an Feinheit und damit Treffsicherheit klar auf seiner Seite.
Besonders ein Ereignis bestärkte Salaam Siin.
Es geschah fast ein Mardakaan-Jahr, nachdem er der Belku namtal beigetreten war.
Einer der Übungsleiter hatte ihn in die Domkammern verwiesen, wo ähnlich wie im zaaturischen Dom der Harmonie unter besonders günstigen Bedingungen geprobt werden konnte. Wie gewöhnlich hatte sich Salaam Siin gefügt, obgleich er der Ansicht gewesen war, eine zusätzliche Übungseinheit sei unnötig.
Er stimmte zum Zeitvertreib den Gesang der Heraldischen Tore von Siom Som an. Seit seiner ersten Prüfung im Alter von eineinhalb Mardakaan-Jahren hatte er aus einem Instinkt heraus ebendiese Darbietung stets gemieden. Nun aber verstand er, was die ganze Zeit über in seinem Unterbewußtsein verborgen gelegen hatte. Die Fortissimo-Stellen im Finale enthielten bei entsprechender Interpretation eine sonderbare, psionisch äußerst druckvolle Komponente ...
Mit einemmal wurde ihm klar, weshalb die Mitglieder des Prüfungskollegiums damals so verschlossen und hochachtungsvoll reagiert hatten. Er besaß eine Gabe, ein ganz besonderes Talent - durch die Präzision seines Gesangs vermochte er gänzlich neue Chromatiken zu entwickeln und an andere weiterzugeben.
Dennoch behielt er die Erkenntnis für sich und verbrachte die nächste Zeit in der Abgeschiedenheit der Domkammern. Bald sah er, wie recht er mit seinem Schweigen getan hatte. Die neue Chromatik ließ sich nicht gestalten, wie es Salaam Siin vorhatte.
Jeder neue Versuch brachte lediglich zerstörerische Wirkungen hervor, und in diesen Augenblicken war er jedes Mal heilfroh, daß niemand außer ihm zugegen war.
Salaam Siin begriff, daß er einen der verbotenen Gesänge entdeckt hatte. Hier wirkten psionischer. Druck und komplizierte Melodie in einer Form zusammen, daß ein unerhörter suggestiver Druck entstand; er nannte dies Nambaq siwa, den Gesang des Todes.
Niemals würde ein anderer Ophaler oder überhaupt ein anderes Wesen diesen Gesang hören - das schwor er sich.
Noch ahnte er nicht, wie bald er seinem Vorsatz untreu werden sollte.
*
Salaam Siin und Kaleng Proo weilten kurz vor Anbruch der Nacht in ihrer Kammer, als eine erschütternde Nachricht sie erreichte. Ihr Singlehrer hatte einen tödlichen Unfall erlitten. Sie alle waren nun ohne Führer - ein untragbarer Zustand, den die Lehrer der anderen Schulen sogleich nutzen würden.
Es galt rasch zu handeln.
Salaam Siin und Kaleng Proo begaben sich mit den übrigen Sängern der Schule in den Großen Versammlungsdom. Zwei Ophaler, die zwar keine herausragenden Sänger waren, aber hohe Verwaltungspositionen bekleideten, führten den Vorsitz.
„Ein schlimmes Schicksal droht uns", sang einer von beiden, „da unser Singlehrer uns verlassen hat... Aber noch ist keine Zeit für Trauer. Wir müssen die Nachfolge regeln, bevor die übrigen Schulen reagieren können."
Eine Weile herrschte Schweigen, dann fuhr der andere fort: „Wir haben nur zwei Alternativen, zwei Sänger, die so sehr herausragen, daß sie hoffen können, den Singlehrer zu ersetzen: Der erste ist Kaleng Proo..." Ein Seitenblick traf den kleinen Ophaler, „und der zweite natürlich Salaam Siin. Wie sollen wir
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