0516 - Im Netz der Mörderspinne
Der keltische Opferdolch schnitt in Zamorras Haut. Unwillkürlich stöhnte der Gefesselte auf. Er wußte, daß es keine Rettung mehr gab, und er konnte nur hoffen, daß es schnell gehen würde. Wie in einem rasenden Zeitrafferfilm jagte sein gesamtes Leben an ihm vorbei, die Hunderte von Abenteuern, von denen dies hier das letzte sein sollte. Dabei hatte es zuerst so ausgesehen, als würde endlich wieder ein wenig Ruhe auf Château Montagne einkehren. Denn der schwarzhäutige, namenlose Gnom hatte den Zauber gefunden, der ihn und seinen Herrn Don Cristofero zurück ins Jahr 1673 tragen sollte, aus dem sie vor zwei Jahren in die Zukunft versetzt worden waren. Seitdem hatte der skurrile Vorfahre Zamorras nichts als Ärger verursacht.
Doch wieder einmal war der Zauber des Gnoms fehlgeschlagen. Nicht nur, daß Zamorra und Nicole mit in die Zeitreise einbezogen worden waren - sie war auch noch viel zu weit in die Vergangenheit gegangen. Zamorra hatte sich inzwischen zusammenreimen können, daß man das Jahr 58 vor Chr. schrieb. Sie waren in die Gefangenschaft eines helvetischen Keltenstammes geraten, der nach Gallien einwandern wollte, was wiederum Julius Caesar nicht paßte. Schlachten standen bevor.
Aber Zamorra würde vorher sterben. Er lag festgebunden auf einem Opferaltar, und der Zauberpriester schwang das Messer, um ihn zu Ehren des Gottes Taranis zu schlachten und anschließend verbrennen zu lassen. Was mit Nicole geschehen war, wußte Zamorra nicht. Don Cristofero war während eines Zweikampfes mit einem Keltenkrieger in den nahegelegenen Wald geflüchtet - und der Gnom war möglicherweise überhaupt nicht mit hierher versetzt worden; zumindest hatte ihn bisher niemand gesehen. Es war durchaus denkbar, daß er der einzige war, der am richtigen Ort und in der richtigen Zeit angekommen war…
Dann überlebte wenigstens er. Für alle anderen sah Zamorra keine Chancen mehr. Sein Versuch, den Druiden von seinem Vorhaben abzubringen, war gescheitert. Der Zauberpriester hatte es sich in den Kopf gesetzt, Zamorra zu opfern, und zog das jetzt konsequent durch.
Langsam verstärkte er den Druck auf die Dolchspitze. Dabei bat er Taranis, das Opfer anzunehmen. Und Hunderte von Helvetiern schauten zu, wie Zamorra starb.
***
Lady Patricia Saris war eine vielseitig interessierte junge Frau. Ihr Hauptinteresse galt natürlich dem Wohlbefinden ihres Sohnes Rhett, der jetzt etwas älter als ein halbes Jahr war. Aber dadurch, daß sie von einem sehr langlebigen Mann verwitwet war und auch ihr Sohn zu den sehr langlebigen Menschen zählte, begann sie sich für Geschichte zu interessieren. Professor Zamorras Bibliothek war auch in dieser Hinsicht reich bestückt, und so konnte die junge Schottin sich mit dicken Geschichtsbüchern und Fotobänden befassen. Derzeit stürzte sie sich förmlich in diese Beschäftigungstherapie, um zu verdrängen, daß ihr Gastgeber Zamorra nebst seiner Gefährtin spurlos in der Vergangenheit verschwunden war. Butler William hatte ebenso wie der alte Raffael Bois anfänglich gezögert, ihr die Wahrheit zu erzählen, aber irgendwann mußte es ja doch sein.
Die Chancen der Verschollenen, zurückzukehren, waren äußerst gering. Auf die Zauberkünste des Gnomen war wenig Verlaß, und eine andere Möglichkeit gab es nicht. Die Zeitringe befanden sich laut Raffael noch in Zamorras Tresor. Und sogar das Amulett hatte die Reise in die Vergangenheit offenbar nicht mitgemacht. Allerdings, hatte Raffael angedeutet, fühle es sich sehr weich an, und er habe den Eindruck, als sei es irgendwie nicht ganz vorhanden.
Was auch immer das bedeuten mochte.
Sie waren so verblieben, daß sie eine gewisse Zeitspanne verstreichen lassen wollten. Dann mußten Zamorras Freunde alarmiert werden, die vielleicht eine Möglichkeit finden würden, die Verschollenen aufzuspüren und zurück in die Gegenwart zu holen. Aber wo sollten sie suchen? Im Jahr 1673? 1675? In welchem Monat, an welchem Tag? Außerdem war nicht einmal garantiert, daß sie in jener Epoche angekommen waren. Wenn der Zauber des Gnomen schon in der einen Hinsicht versagte, warum dann nicht auch in jeder anderen? Vielleicht hatte es die Verschollenen sogar in die Zukunft verschlagen. Alles war möglich. Aber Patricia wollte nicht ständig darüber nachdenken. Wenn ihr Baby ihr Zeit ließ, vertiefte sie sich daher in die Bücher. Sie war jetzt Dauergast in Frankreich, da lag es nahe, sich auch um die französische Geschichte zu kümmern.
Gleich mehrere
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