1328 - Die Lust und der Tod
Haut spannte.
Wer immer diese Person oder Unperson auch war, ich hatte sie noch nie in meinem Leben gesehen, und ich wusste auch nicht, wie ich sie einstufen sollte.
In der letzten Zeit hatte ich viele Fälle erlebt, in denen Engel eine Rolle gespielt hatten. Deshalb konnte es sein, dass die Nackte in diese Richtung tendierte.
Ein nackter Engel?
Es war alles möglich. Ein Engel ohne Flügel. Einer, der das Aussehen eines Menschen hatte, der sich zugleich möglicherweise wandeln und verwandeln konnte?
Ich war gespannt, aus welch einem Grund sich diese Frau die Kühlerhaube des Rovers als Landeplatz ausgesucht hatte. Das musste etwas zu bedeuten haben. Möglicherweise wollte sie meine Nähe, um mir etwas mitzuteilen.
Oder war das Bea?
Nein, bestimmt nicht. Ich vergaß den Gedanken wieder und konzentrierte mich auf ihre Augen. Sie lagen wie dunkle Knöpfe in den Höhlen. Geheimnisvolle Pupillen, in denen allerdings keine Botschaft zu lesen war. Sie wirkten leer und tot.
Ein zischendes Geräusch lenkte mich ab. Es war im Radio entstanden und aus den Lautsprechern gedrungen. Lange hielt es nicht an, denn es folgte eine Stimme.
Wieder meldete sie sich aus dem Radio. »Bea – Bea Hunt. Du musst sie schützen. Beschützen. Sie ist in Gefahr, in großer Gefahr sogar. Sie darf nicht umkommen. Das Jenseits will zuschlagen. Bea ist wichtig. Du musst ihr helfen.«
Zum ersten Mal hatte ich mehr erfahren, konnte aber nicht behaupten, dass ich froh darüber war, denn weitergebracht hatte es mich nicht. Mehr Fragen waren mir in den Sinn gekommen. Ich wollte sie stellen, aber die Frau machte mir einen Strich durch die Rechnung.
Nichts hatte sich zuvor angedeutet. Sie rutschte nur auf der Kühlerhaube nach hinten, und ich sah noch, wie sie fiel, sich aber dann in ein Flugobjekt verwandelte und dicht über den Boden hinweghuschte. Sie flog parallel zu den Sträuchern und war wenig später aus meinem Blickkreis verschwunden.
Allein gelassen und voller Gedanken blieb ich sitzen. Auch wenn ich länger darüber nachdachte, ich kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis.
Beatrice Hunt war sie nicht!
Nein, sie musste eine Person oder ein Wesen sein, das mit Bea Hunt in einem Kontakt stand, das war alles. Aber sie würde mich zu ihr führen können, und sie kannte womöglich das Geheimnis, das Bea Hunt umgab. Es musste düster sein, sonst hätte sie keine Angst um Bea Hunts Leben gehabt.
Dass es im Wagen noch immer so verdammt heiß war, daran dachte ich nicht mehr. Ich stieg aus und sah mich um.
Die Nackte war verschwunden. Weggeflogen wie ein Vogel. Da kam mir automatisch Carlotta, das Vogelmädchen, in den Sinn. Es lebte in Dundee bei der Tierärztin Maxine Wells und war eine genmanipulierte Person, halb Mensch und halb Vogel.
Ich verglich die Besucherin mit Carlotta und kam zu dem Ergebnis, dass es keine Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab. Abgesehen davon, dass beide fliegen konnten.
Wieder griff ich zum Handy. Ich wollte noch mal mit Jane Collins sprechen. Es konnte durchaus sein, dass ihr Ähnliches passiert war.
Wenn nicht, sollte sie die Augen aufhalten.
Sie meldete sich mit einem neutralen »Hallo« und lachte auf, als sie meine Stimme hörte.
»Du bist es, John. Und? Hast du schon die Vorstädte von London erreicht?«
»Habe ich nicht. Ich stehe noch immer auf dem Parkplatz.«
Jane sagte nichts. Sie lachte auch nicht mehr, denn sie wusste sofort, dass ich mich nicht grundlos hier aufhielt.
»Ich denke, dass du mir etwas sagen willst.«
»Ja, denn ich hatte eine Begegung der unerklärbaren und unheimlichen Art.«
»Ich höre«, sagte sie nur.
Sie unterbrach mich auch nicht. Hin und wieder atmete sie nur schneller, aber es bauten sich Fragen bei ihr auf, die sie auch schließlich stellte, als ich geendet hatte.
»Ich kenne dich. Es liegt bestimmt nicht an der Hitze. Aber du hast wirklich eine fliegende nackte Frau gesehen?«
»Habe ich.«
»Es war nicht Bea Hunt?«
»Nein, aber sie muss mit ihr zu tun haben. Allmählich wird die Frau für mich interessant.«
»Für mich auch«, flüsterte Jane.
»Lassen wir es dabei, Jane. Ich weiß nicht, ob die andere Seite über unseren Kontakt informiert ist. Möglich ist alles, und deshalb möchte ich dich bitten, die Augen offen zu halten. Möglicherweise stehst auch du auf der Liste.«
»Ja, ich kann es mir denken. Und ich denke mal weiter, dass wir nicht bis morgen warten sollten, um an Bea Hunt heranzukommen. Setz du deinen Weg fort. Ich werde versuchen, sie
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