Ihr unschuldiges Herz: Kriminalroman (German Edition)
Prolog
Sieglinde Reichard spuckte Blut und kniete sich wie befohlen in den herbstkalten, mit welkem Weinlaub bedeckten Schlamm. Obwohl sie inzwischen ahnte, was geschehen würde, zuckte sie voller Panik zusammen, als es ganz dicht neben ihrem linken Ohr klickte. Das metallische Geräusch, das eine Pistole macht, wenn jemand anderes den Hahn spannt und dir die harte Mündung gegen die Schläfe drückt, besitzt eine ganz eigene Qualität. Es hat etwas Endgültiges, etwas Gnadenloses und Unabwendbares, und man weiß, dass man gleich sterben wird. Was aber denkt man in diesem einzigartigen Moment, in dem man das erkennt? Was geht einem vor der Kugel als Letztes durch den Kopf?
Man sagt weitläufig, entscheidende Szenen des Lebens zögen einem am inneren Auge vorbei, in dieser Sekunde, aus der der menschliche Geist eine Ewigkeit zu formen in der Lage ist– wie ein Film im Schnellvorlauf; vielleicht mit, vielleicht ohne Ton. Oder auch nur einzelne, blitzartig aufleuchtende Standbilder… Schnappschüsse… Momentaufnahmen– wie in einer hektischen, stroboskopartig präsentierten Diashow.
Sowohl die großen und kleinen Erfolge und Triumphe als auch alle Misserfolge und Niederlagen.
Momente berauschenden, unvergleichlichen Glücks und ganz besonderen Schmerzes. Erstere, weil man sie mit jemandem geteilt hat, Letztere, weil man sie mit niemandem teilen konnte.
Wägen religiöse Menschen in diesem endgültigen Augenblick ihre Sünden und Wohltaten gegeneinander ab, um schon vor der großen Reise herauszufinden, ob sie im Himmel endet oder in der Hölle? Ist das nicht sogar die Urdefinition von endgültig?
Andere jedoch sind der festen Überzeugung, dass es gar nicht unsere Erinnerungen sind, die sich im grausigen Angesicht des sicheren Todes vor unserem geistigen Auge abspulen, sondern vielmehr all unsere unerfüllten Träume und Ziele– all die Dinge, die wir trotz größter Sehnsucht und selbst nach härtesten Kämpfen nie erreicht haben oder die zu erledigen wir einfach noch keine Gelegenheit fanden.
Die Wahrheit ist, und das wusste Sieglinde Reichard jetzt, da sie, verloren in dunkler Nacht, mit zittrigen Beinen im Matsch kniete: Nichts davon stimmt. Auch wenn du weißt, dass du gleich sterben wirst, glaubst du es nicht. Du denkst, dass das alles nur ein schrecklicher Irrtum ist, dass Menschen unmöglich wirklich so böse sein können und dass ganz bestimmt gleich irgendein Wunder geschieht, das dich retten wird. Oder dass du jeden Augenblick schweißgebadet von der Matratze deines eigenen warmen Bettes aufschreckst und mit einem erleichterten Aufatmen feststellst: Das alles war nur ein böser Traum.
Aber realistischer als in jedem noch so erschreckenden Albtraum, den sie in ihrem bisherigen Leben durchlitten hatte, klebte ihr der leichte Nieselregen das Haar ins Gesicht und die Bluse an den im Nachtwind fröstelnden Leib. Sie kniete zwischen zwei talwärts laufenden Weinbergzeilen mit Blick auf den vom vollen Mond beschienenen Rhein, aber ihre tränenverquollenen Augen nahmen die idyllische Schönheit nicht wahr. Sie versuchten, die Namen zu entziffern, die auf dem nassen Blatt standen, das ihr in die Hand gedrückt worden war.
» Lies vor!« Der raue Befehlston ließ sie noch einmal zusammenzucken.
» Bitte…«, flehte sie.
Doch als Antwort auf ihr Flehen wurde ihr nur die Mündung der Waffe fester gegen die Schläfe gepresst.
» Lies endlich vor!«
Von Erbach und Eltville herauf erklang das regengedämpfte Schlagen der Kirchturmuhren.
Es war Mitternacht.
Sieglinde Reichard überlegte, ob sie sich wehren oder fliehen sollte, doch beides hatte sie schon versucht, und jetzt fehlten ihr zwei Backenzähne, und mindestens drei ihrer Rippen waren gebrochen, wenn nicht gar gesplittert. Das Atmen schmerzte höllisch, und es tat auch mörderisch weh, wenn sie Blut ausspuckte, aber es sammelte sich in ihrem Mund, und sie wollte es nicht schlucken.
» Jetzt!« Seine Stimme kippte vor Ungeduld, und er schlug ihr mit dem Lauf auf den Hinterkopf.
Sieglinde riss sich zusammen und begann, mit zittriger Stimme zu lesen. Es waren männliche und weibliche Namen– allesamt deutsch. Viele von ihnen hatten einen altmodischen Klang, wie etwa Joseph, Magda und Philomena. Keiner dieser Namen sagte ihr etwas. Sie kannte die Menschen nicht, denen sie gehörten, und sie wusste auch nicht, warum sie gezwungen wurde, sie vorzulesen. Aber sie fürchtete zu wissen, was geschehen würde, sobald sie den letzten der Namen über ihre
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