1344 - Fluchtburg der Engel
sie nicht geben.
»Hattest du Angst?«
»Unsinn, Linda!«
»Na, na, na – sag das nicht. Ich habe ebenfalls so etwas wie Angst gehabt. Ich weiß nämlich nicht, ob das alles stimmt, was wir da erlebt haben. Als ich schlief und mir die Dinge wieder in den Sinn kamen, habe ich es fast für einen Traum gehalten. Komisch, nicht?«
Sie zuckte die Achseln. »Das ist mir einfach zu suspekt. Ich komme da nicht richtig mit, wenn du verstehst.«
»Klar.«
»Es war also kein Traum?«
Wilma verdrehte die Augen. »Linda, ich bitte dich. Es entsprach der reinen Wahrheit. Wir haben endlich das erreicht, was wir wollten. Unser Hotel ist jetzt ein Stützpunkt der Engel. Das musst du dir mal vor Augen halten. So etwas ist einmalig auf der Welt, denn ich glaube nicht, dass es dies noch ein zweites Mal gibt. Nein, das glaube ich nicht. Es ist wirklich diese Einmaligkeit, die uns aus allem hervorhebt.«
Linda wiegte den Kopf. »Ich weiß nicht so recht…«
»Doch, du solltest deine Zweifel begraben. Wir sind etwas Besonderes in dieser Welt. Man hat uns auserwählt.«
»Hast du denn auch an die Gefahren gedacht?«
Wilma hob die Augenbrauen. »An welche Gefahren, bitte? Sind wir angegriffen worden?«
»Nein, das nicht.«
»Eben.«
Linda ließ nicht locker. »Aber da ist doch etwas gewesen, das wir uns nicht erklären können.«
»Schon. Wir haben es gerochen. Nur möchte ich nicht darüber nachdenken. Es ergibt für mich keinen Sinn, das muss ich dir sagen.«
»Der eine Engel war tot. Wir haben ihn zusammenkratzen müssen. Das kam nicht von ungefähr.«
Wilma Dorn wollte es nicht akzeptieren. »Ein Unglück«, erklärte sie. »Ein Unfall, der immer mal passieren kann. Damit müssen wir uns einfach abfinden. Auch Engel sind nicht unsterblich, sage ich mal.«
»Das hört sich schlimm an.«
»Ich weiß, aber…«
»Es sind doch keine Menschen, Wilma. Engel sind neutrale Geistwesen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sterben können wie du und ich. Da muss schon etwas anderes passiert sein, und zwar etwas Schwerwiegendes, dass so etwas überhaupt passieren kann.«
Wilma wollte über dieses Thema nicht länger diskutieren. »Was willst du damit sagen? Hast du ein Resultat? Ein Fazit?«
»Das habe ich. Denn ich bin der Ansicht, dass auch die Engel Feinde haben.«
»Und wer sollte das sein, bitte schön?«
»Keine Menschen.«
»Gut, und weiter?«
»Nichts weiter. Ich meinte nur.«
»Du hast keine Beweise, Schwester. Wirklich nicht. Und ohne Beweise lasse ich mich auf so etwas nicht ein.«
»Dann müssen wir eben abwarten.«
»Das werden wir auch.«
Beide hatten irgendwie um den heißen Brei herumgeredet. Keine hatte davon gesprochen, dass sie nach oben gehen und nachschauen wollte. Da gab es bei ihnen einen Hemmschuh.
Aber Linda ließ nicht locker. Sie konnte manchmal so richtig zäh sein, wenn sie sich an etwas festgebissen hatte. »Wie werden wir denn den Tag verbringen? Hast du dir darüber schon mal Gedanken gemacht?«
»Nein, habe ich nicht. Aber ich denke, dass wir im Haus bleiben werden. Oder willst du in den Nebel fahren?«
»Nicht unbedingt.«
»Und wann sehen wir im Hotel nach?«
»Gleich.«
»Gut.«
Dass es beiden Frauen nicht angenehm war, sah man ihnen an, aber sie sprachen nicht darüber. Sie gingen schweigend ihrer Arbeit nach, die immer gleich war. Sie räumten gemeinsam den Tisch ab.
Danach würden sie etwas putzen und sich dann anderen Aufgaben widmen.
Wilma hatte sich ein neues Hobby gesucht. Sie bastelte seit einiger Zeit Engel. Ob aus Stoff, Draht oder Holz, das war egal. Irgendwie kam sie mit allen Materialien zurecht. Nur sie persönlich war mit dem Ergebnis noch nicht richtig zufrieden, denn die meisten Engel entsprachen nicht ihren Vorstellungen. Sie waren noch zu dilletantisch. Deshalb hatte Wilma sie ihrer Schwester noch nicht gezeigt.
Mit einer entschlossenen Handbewegung strich sie das graue Haar zurück und nickte. »Dann sollten wir so schnell wie möglich nach unseren Freunden schauen. Es könnte sein, dass wir etwas für sie tun müssen.«
Linda lehnte an der Spüle, die sie geputzt hatte. »Was denn?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Lass uns hingehen, und wir sehen es.«
»Ja.« So ganz wohl war Linda nicht. Auch ihr Nicken wirkte verkrampft. Bevor sie ihrer Schwester zur Tür folgte, warf sie einen letzten Blick in den Nebel. Er hatte sich nicht verflüchtigt, er war nur heller geworden und hatte sich dem Tageslicht angepasst. So war die ursprüngliche Farbe in
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