1344 - Fluchtburg der Engel
tiefen Falten und den eingefrästen Ringen unter den Augen. Ich sah den bösen Mund und diese eiskalten Augen, die seine Lügen transportierten.
Über die Schultern hinweg ragten die Enden der ebenfalls grauen Flügel, die er leicht ausgebreitet hatte.
Ich war froh darüber, mein Kreuz in der Hand zu halten, denn es wirkte wie ein Bollwerk gegen ihn.
»Belial«, flüsterte ich. »Der Engel der Lügen. Diesmal hast du dich geschnitten. Du hast verloren.«
»Das habe ich nicht!«, schrie er zurück. Es war bei ihm kein normales Schreien. Seine Stimme klang schrill und künstlich, als wäre sie durch ein elektronisches Gerät erzeugt worden.
»Doch, du hast verloren. Ich habe die Engel retten können. Durch mich bekamen sie wieder ihre Kraft zurück. Das kannst du nicht wegdiskutieren.«
Er zitterte vor Wut. Ich wartete auf einen Angriff, aber er hatte nichts in der Hand, womit er mich hätte erpressen oder aus der Reserve locken können.
Ich ging auf ihn zu.
Wütend schüttelte er den Kopf. »Ich werde sie jagen. Ich werde sie mir holen, diese verfluchten Abtrünnigen. Sie haben sich gegen mich gestellt. Sie wollten mich nicht mehr in ihrem Reich haben. Sie waren so forsch und dachten, sie könnten sich alles erlauben. Aber nicht bei mir, nicht bei mir. Ich werde ihnen meine Wahrheit zu fressen geben, nur meine, verstehst du das?«
»Und ob ich das verstehe, Belial.« Für mich war er kein Engel. Ich sah ihn als Dämon an. Manche bezeichneten Wesen wie ihn auch als gefallene Engel. Die Einstellung spielte keine Rolle. Es war für mich der Ursprung aller Lügen.
Nur wollte er dies nicht wahrhaben. Er verdrehte die Wahrheit so, wie es ihm passte und wieder schrie er mir mit seiner künstlichen Stimme ins Gesicht.
»Ich habe gewonnen. Ich allein trage den Sieg davon. Ich bin es, nur ich, verstehst du?«
Ich wollte ihn mit der geballten Macht meines Kreuzes erwischen und ihn zerstören. Die Formel rutschte mir wie von selbst über die Lippen, doch ich sprach sie nicht mal zur Hälfte aus.
Belial reagierte!
Er warf sich zurück. Sein schattenhafter Körper wurde zu einem zuckenden Etwas. Er breitete die Flügel aus und flog so schnell wie möglich davon. Es war so leicht für ihn. Es war fast zum Lachen.
Als ich das Fenster erreichte, hatte ihn der Dunst bereits verschluckt, und ich hörte nur noch sein höhnisches und schrilles Gelächter.
Ich steckte mein Kreuz wieder ein und drehte mich um. Bill hatte das Zimmer betreten.
»Und?«, fragte er.
Ich hob nur die Schultern.
»Sieg oder Niederlage?«
»Weder noch«, antwortete ich. »Höchstens ein Unentschieden.«
Dabei schaute ich auf das Bett, wo der Engel lag, aber nicht mehr glühte. Seine Reste sahen aus wie Glaskrümel, eine letzte Erinnerung an Belial, den Lügenengel…
***
Einen richtigen Schock hatten die Schwestern zwar nicht bekommen, aber sie waren schon ziemlich durcheinander, als wir mit ihnen in der Rezeption zusammentrafen.
Natürlich wollten sie wissen, ob die Gefahr vorüber war, das konnte ich mit gutem Gewissen unterstützen. »Der Feind der Engel hat nicht alles geschafft«, sagte ich. »Jetzt kommt es auf Sie beide an, ob Sie weitermachen wollen?«
Die Frauen schauten sich an. Linda erwiderte nichts. Sie kam mir eher skeptisch vor.
Wilma nickte nach einer Weile. »Ja, ich mache weiter, Mr. Sinclair. Es ist bei mir wie eine Sucht, verstehen Sie? Ich habe Blut geleckt. Ich weiß, dass mir die Engel so wahnsinnig viel bringen können. Mir persönlich, verstehen Sie?«
»Ja, das verstehe ich. Aber ich muss Ihnen sagen, dass es auch gefährlich werden kann.«
Auf ihren Lippen erschien ein Lächeln. »Das Leben ist voller Gefahren«, sagte sie dann. »Wäre es nicht so, würde man gar nicht merken, dass man lebt – oder?«
»Wenn Sie das sagen, haben Sie Recht, Mrs. Dorn. Dann darf ich Ihnen für die Zukunft viel Glück wünschen. Zudem glaube ich, dass wir noch voneinander hören werden. Es kann sein, dass Ihr Haus wirklich zu einer echten Fluchtburg der Engel wird, so dass sie einen kleinen Platz hier auf der Erde haben. Ich wünsche es Ihnen jedenfalls.«
Wilma Dorn umarmte mich und sagte nur: »Danke, Mr. Sinclair. Ich werde mich an alles erinnern…«
ENDE des Zweiteilers
[1] Siehe John Sinclair Nr. 1343 »Manons Feuerhölle«
Weitere Kostenlose Bücher