1344 - Fluchtburg der Engel
hier nicht mit einem Menschen zu tun haben. Das ist ein Engel, ein echter Engel. Denk immer daran.«
»Ich weiß.«
Die Stimme der Wilma Dorn klang feierlich, als sie weitersprach.
»Du solltest ihm den nötigen Respekt entgegenbringen und auch dankbar dafür sein, dass er sich unser Hotel als Ruhezone oder Fluchtburg ausgesucht hat. Wir beide sind die Auserwählten unter Millionen von Menschen, das musst du mir glauben. Er hätte sich auch eine andere Ruhestätte aussuchen können, aber nein, er hat uns erwählt, und genau das erfüllt mich mit großer Dankbarkeit.«
»Ja, du hast wohl Recht.«
»Schau ihn dir genau an!« Wilma drehte sich etwas zur Seite, um ihrer Schwester einen besseren Blick auf den Engel zu geben.
Der Engel, der dort lag, hatte tatsächlich einen menschlichen Umriss, und sie verspürte plötzlich den Wunsch, ihn zu berühren.
»Darf ich ihn anfassen?«, fragte sie.
Wilma war überrascht. »Du willst ihn wirklich berühren?«, flüsterte sie.
»Ja, das möchte ich.«
»Und warum?«
»Weiß ich nicht. Der Wunsch ist plötzlich über mich gekommen. Aber wenn du nicht willst, dann…«
»Doch, doch, mach es ruhig. Ich habe es auch getan und es ist wunderbar.«
»Ja dann…«
Linda wunderte sich über sich selbst, aber es gab jetzt kein Zurück mehr für sie. Außerdem wollte sie sich nicht blamieren. Die zusammengelegten Finger ihrer ausgestreckten Hand zitterten schon ein wenig, als sie den Arm vorstreckte. Sie spürte den Druck in ihrem Kopf, aber sie merkte auch, dass sie ihre Hand etwas Fremdem näherbrachte, das mit einem Menschen nichts zu tun hatte.
Die Gestalt strahlte etwas ab…
Kühle, nicht unangenehm. Sie rann als leichtes Kribbeln über ihre Haut hinweg. Das passierte noch alles vor der Berührung. Ganz anders wurde es, als sie den Kontakt gefunden hatte.
Es war nur ein leichter Widerstand zu spüren, wie bei einem sehr dünnen Häutchen.
Und dann…?
Linda hielt den Atem an. Etwas, das sie nie gekannt hatte, durchströmte sie. Es war auch schwer, es zu erklären. Sie konnte nur von einem Strom sprechen, der so warm und beruhigend durch ihren Arm hoch bis zur Schulter rann und von dort seinen Weg weiterführte bis in die Brust hinein und dabei auch das Herz erreichte.
Es war einfach unbeschreiblich. Linda konnte nicht anders. Sie musste die Augen schließen, um sich diesem völlig neuen Gefühl hinzugeben. Es war so wohlig, es tat so unerklärlich gut, und wenn sie es hätte beschreiben müssen, was ihr sehr schwer gefallen wäre, dann hätte sie von einer Botschaft aus dem Jenseits gesprochen.
Ja, das musste es sein. Eine Botschaft aus dem Jenseits. Von einem Ort aus, der nicht das Reich der Toten war, aber trotzdem irgendwie dazugehörte.
Linda war nicht fähig, einen Kommentar abzugeben. Sie stand auf dem Fleck, und ihre Gefühle spiegelten sich in ihrem Gesicht wider, auf dem ein glückliches Lächeln lag.
Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie ein derartiges Glücksgefühl verspürt.
Die Zeit hatte für Linda ihre Bedeutung verloren. Sie wusste nicht, ob Minuten oder gar Stunden vergangen waren. Zwar stand sie mit beiden Beinen auf dem Boden, aber auch das merkte sie nicht. Sie fühlte sich so leicht und wunderbar, als wäre sie aufgefordert worden, die Arme zu spreizen und wegzufliegen.
Es machte ihr schon Mühe, den Kopf zu drehen. Als sie sich überwunden hatte, ging es dann ganz leicht. So erfasste ihr Blick das Gesicht der Engelsgestalt und es war ein Gesicht. Nicht mehr nur ein schattenhaftes Etwas. Es gab sogar die Andeutung von Augen, einer Nase und einem Mund. Trotzdem besaß das Gesicht keinen maskenhaften Ausdruck, das Leben darin schien nur etwas zurückgenommen worden zu sein.
Linda hätte ewig hier am Bett stehen bleiben können. Nichts zerrte sie zurück ins normale Leben. Dieser Platz war für sie einfach wunderbar, aber es gab noch eine andere Realität, und die merkte sie sehr bald, als Wilma ihr beide Hände auf die Schulter legte.
»Bitte, Linda…«
Sie schrak zusammen.
Wilma fasste nach ihrem linken Arm. Behutsam zog sie ihn zurück und hielt dabei ihre Schwester fest, die in einen leichten Taumel geraten war und es schwer hatte, normal stehen zu bleiben. Zu überwältigend waren die Erinnerungen.
Linda ging mit unsicheren Schritten zurück, geführt von ihrer Schwester, die sie etwas später umarmte.
Lange Zeit bewegten sich die Schwestern nicht, bis Linda einen wohlig seufzenden Atemzug ausstieß.
»Bist du zufrieden?«
»Ja,
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