1344 - Fluchtburg der Engel
nichts, das die Kälte aufhielt.
Wilma, die Jüngere, ging vor. In der Rezeption blieb sie stehen, um zu lauschen. Es war nie ganz still im Haus. Es knackte und schabte immer irgendwo. Im Winter liefen oft Mäuse in der Dunkelheit umher, weil sich die Tiere wärmere Gefilde suchten. Glücklicherweise bestanden die Morgenmäntel aus einem relativ dicken Stoff, der innen flauschig aufgeraut war.
Linda Dorn trug ihre Bedenken vor. »Sollen wir uns nicht lieber eine Waffe besorgen? Ein Beil oder so…«
Wilma ruckte herum. »Warum? Wofür? Glaubst du, dass du dich gegen Engel wehren musst? Es sind keine Mörder, keine Killer. Daran solltest du denken.«
Linda lächelte nur krampfhaft.
Wilma wollte nicht länger stehen bleiben. Sie warf auch keinen Blick nach draußen, sondern nahm die ersten Stufen der Treppe, die zu den Zimmern führte.
Das Licht hatten die Schwestern brennen lassen. Ihre Gestalten warfen Schatten, als sie der ersten Etage entgegenschritten. Beide spürten die Spannung in sich.
Im Flur der ersten Etage blieben sie wieder stehen und lauschten.
Beide spürten auch das heftige Klopfen ihres Herzens.
Zumindest Linda kam sich im eigenen Haus wie eine Fremde vor. Es war alles normal geblieben. Dennoch konnte sie sich vorstellen, unter Beobachtung von Wesen zu stehen, die im Unsichtbaren lauerten und nicht nur als Freunde der Menschen galten.
Dass ein Engel sich zu ihnen ins Haus geflüchtet hatte, das konnte sie ja noch akzeptieren. Aber dass sie seine Reste auf dem Bett gefunden hatten – und zwar Reste wie Glaskrümel –, das wollte ihr nicht in den Sinn.
In der ersten Etage, wo auch die Zimmer rechts und links des Flurs lagen, war es still und zudem kühl. Die kalte Luft hatte sich von draußen her ihren Weg gebahnt und auch den Flur erreicht.
Die Schwestern hatten die Türen der Zimmer ebenso offen gelassen wie die Fenster. In keinem der Räume brannte Licht. Sie schauten in das Dunkel hinein und sahen nur die Umrisse der Fenster als schwache Vierecke.
»Ich warte hier«, sagte Linda leise, als ihre Schwester sich daran machte, das erste Zimmer zu betreten.
»Gut.«
Wilma verschwand. Die Dunkelheit des Zimmers saugte sie auf.
Der Dunst hatte sich auch in den Nachtstunden nicht verflüchtigt.
Er hatte seinen Weg durch die Fenster gefunden und sich im Raum ausgebreitet. So bekam Wilma ein nahezu gespenstisches Aussehen und nur das leise Knacken der Bodendielen war zu hören, wenn sie ihre Füße aufsetzte.
Wilma entglitt ihrem Blick. Wenig später war nicht einmal mehr das Knarren der Bodendielen zu hören. Trotzdem bekam Linda eine Gänsehaut und schauderte zusammen.
Sekunden verstrichen, in denen nichts geschah. Linda Dorns Nervosität wuchs. Warum sagte sie nichts?, fragte sie sich. Warum höre ich nichts von ihr?
Schweiß bedeckte ihre Handflächen. Durch das Fenster rollten auch weiterhin die lautlosen Nebelschwaden in den Raum und berührten das Gesicht der wartenden Frau wie kühle Tücher.
Plötzlich passierte es. Obwohl Linda irgendwie damit gerechnet hatte, zuckte sie doch zusammen, als sie den leisen Schrei hörte.
»Komm her!«
Für einen Moment zögerte sie noch. Aber die Stimme ihrer Schwester hatte sich nicht ängstlich angehört. Eher leicht überrascht. Das sorgte dafür, dass sich Linda endlich traute, das Zimmer zu betreten.
Wilma stand neben dem Bett.
Das sah Linda Dorn schon beim ersten hinschauen. Beim zweiten jedoch entdeckte sie, was wirklich hier passiert war. Auf dem Bett lag jemand. Eine helle Gestalt, deren Umrisse leicht glänzten. Sie deuteten auf einen Menschen hin, aber es war kein Mensch, sondern einer dieser anderen Besucher – ein Engel.
Er hatte seine Chance genutzt und war ebenso wie der Nebel durch das Fenster in den Raum eingedrungen. Auf dem Bett hatte er sich zur Ruhe gelegt.
»Ist er nicht wunderbar?«, flüsterte Wilma. »Komm näher, Schwester, komm und schau ihn dir an.«
Linda konnte sich nicht weigern. Wilmas Wunsch war einfach zu stark gewesen.
Die Frau bewegte sich auf Zehenspitzen. Obwohl sie jedes Geräusch vermeiden wollte, bewegten sich die Bohlen doch, und sie hörten wieder die knarrenden Geräusche.
Sie verstummten erst, als Linda nicht mehr weiterging. Den Blick senkte sie dem Bett entgegen, auf dem lang ausgestreckt dieser schon unheimliche Besucher lag.
»Siehst du ihn?«
»Ja.«
Wilma stöhnte leicht auf. »Ist er nicht wunderbar, Schwester? Ist er nicht einmalig? Du musst dir immer vor Augen halten, dass wir es
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