1356 - Am Abgrund des Lebens
gekommen und so geflogen, dass es in das Blickfeld der Kamera geraten war. Ein flatteriges Etwas, fast zu vergleichen mit einem großen Tuch, und es war an die Westseite des Hauses herangeflogen.
Es?
In diesem Moment wünschte er sich noch stärker, seinen Kollegen an der Seite zu haben. Der hätte auch etwas gesehen und ihm möglicherweise eine Erklärung geben können.
Da stimmte was nicht.
Es gab einen Alarmplan im Haus. Nolan wollte jedoch keinen Alarm auslösen. Dazu bestand kein Anlass. Das Haus wurde nicht angegriffen, und es näherte sich auch niemand. Bei den seltsamen Flatterding in der Luft konnte noch nicht von einer Attacke gesprochen werden.
Nolan wartete noch ab.
In den folgenden Sekunden blieb alles normal. Keiner der drei Monitore zeigte eine Veränderung an, aber Nolan war nicht überzeugt. War sein Misstrauen mal geweckt, ließ es sich so schnell nicht vertreiben. Da wollte er den Dingen auf den Grund gehen.
Es war eigentlich nicht erlaubt, den Arbeitsplatz zu verlassen. In diesem Fall war es nicht anders möglich. Sein Kollege lag krank im Bett, und Boris Nolan wollte wissen, was er da gesehen hatte. Er glaubte, dass ihm der Bildschirm nicht die ganze Wahrheit präsentiert hatte.
In der kleinen Halle der Klinik saß noch ein Nachtportier. Das Personal schob reduziert Nachtdienst. Wer nicht außerhalb wohnte, der schlief in einem Seitentrakt, wie auch Boris Nolan.
Eine Schusswaffe trug er nicht bei sich. Man hätte sie ihm zu leicht abnehmen können. Da verließ er sich lieber auf seinen Schlagstock, mit dem er perfekt umgehen konnte.
Der Wachraum lag im Keller. Hier sah es noch ungemütlicher aus als in den oberen Räumen. Jemand hatte mal erklärt, dass er hier nicht tot über’m Zaun hängen wollte, und dem Mann hatte Boris nur Recht geben können. Er stieg die Betonstufen der Treppe hoch und hatte sehr bald die düstere Halle erreicht, wo er über Steinfliesen hinwegschritt, die rot wie Ochsenblut aussahen.
Eine Lichtquelle gab es in der Halle. Das war der erhellte Kasten, in dem der Nachtportier saß, in einer Zeitung blätterte und dann aufschaute, als er Boris sah.
Der Mann im weißen Anzug eines Pflegers kam Nolan entgegen.
»He, was ist das denn? Du hast deinen Platz verlassen?«
»Ja, ich musste das.«
»Warum?«
Er hob die Schultern. »Da draußen stimmt etwas nicht.«
Der Pfleger, auf dessen Kopf kaum Haare wuchsen, und der ein sehr rundes Gesicht besaß, bewegte schnüffelnd die ausgestellten Löcher seiner kurzen Nase.
»Ich habe nichts bemerkt.«
»War auch an der Westseite.«
»Was ist es denn gewesen?«
»Keine Ahnung.«
»He, du hast doch nicht geträumt, Boris?«
»Quatsch. Nein, da war etwas. Aber es ist kein Mensch gewesen, kein Dieb, der sich eingeschlichen hat. Es flog durch die Luft. Wie ein großer Lappen.«
»Ach so, ein Vogel. Hier in der Gegend gibt es Graureiher, das weißt du doch. Die ersten kehren auch wieder aus den südlichen Gefilden zurück. Da würde ich mir an deiner Stelle keine Gedanken machen.«
»Einen Vogel hätte ich identifizieren können«, erklärte Nolan.
»Das ist es.«
Der Pfleger hob seine breiten und an den Seiten sehr runden Schultern. »Dann weiß ich auch nicht, was du meinst. Aber du kannst dir die Sache ja mal anschauen.«
»Das werde ich auch tun.«
»Gut, ich halte die Stellung. Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel.«
»Du sagst es.«
Der Pfleger verschwand in seiner Bude. Er drückte dort einen Kontakt, und Boris hörte den Türsummer. Er konnte die Tür aufstoßen und trat hinein in die Nacht und ebenfalls in die Kälte. In seinem Kellerraum war es schon nicht besonders warm gewesen, aber hier draußen schwappte die kalte Luft schon gegen sein Gesicht.
Hinzu kam der leichte Wind, der die gefühlte Temperatur noch tiefer erschienen ließ.
Auch die Außenseite des Eingangs war beleuchtet. Boris Nolan sah zu, dass er weg aus dem kalten Schein kam und schritt mit kleinen Schritten über den plattierten Weg, der auch zu den Parkplätzen führte, die im Dunkeln lagen.
Die ersten Lampen gab es weiter hinten im Park, und genau dort wollte er hin.
Er kannte sich aus. Und er war auch ein Mensch, der sich glatt und fast lautlos bewegen konnte. Seine Blicke irrten in die verschiedenen Richtungen. Die Taschenlampe hatte er ebenfalls mitgenommen. Ihr bleicher Schein huschte durch die Dunkelheit und entriss ihr zahlreiche kahle Büsche und wie verdorrt wirkendes Strauchwerk.
Man musste schon den Weg kennen,
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