136 - Zigeunerspuk
wird entscheiden, was wir tun."
„Wir sollten die Polizei benachrichtigen", sagte Andrej.
„Es war bestimmt kein Mensch", gab Matteo zu bedenken. „Auch kein Tier. Ich habe einen bösen Verdacht. Erinnerst du dich an das menschenfressende Ungeheuer, mit dem wir vor einiger Zeit zu tun hatten? Ich fürchte, es ist aus dem Totenreich zurückgekehrt…"
Nach einiger Zeit erholte sich das Mädchen von dem gewaltigen Schock. Lucia Amalfi, die stumme Schlangenbändigerin, hatte ein paar von ihren Sachen zur Verfügung gestellt. Während sich die meisten Familienangehörigen voller Eifer auf die abendliche Vorstellung vorbereiteten, saßen Raffael, Matteo, Stefan und Andrej im Wohnwagen und ließen sich erzählen, was wirklich geschehen war. Louretta, Raffaels ehelich angetrauter Dauerschmarotzer, versorgte das Mädchen, das sich Sil- vie Tremon nannte, mit heißem Honigtee. Der half zwar nicht, konnte aber auch nicht schaden. Viel von dem, was geschehen war, wußte auch Silvie Tremon nicht. Es war alles so unglaublich schnell gegangen…
„Wir unterrichten die Polizei", entschied Raffael endlich. „Matteo, du fährst mit dem Mädchen in die Stadt. Wir wollen keinen Ärger, und wir wollen vor allem nicht so eine Gefahr in unserer Nähe haben. Ganz gleich, ob es Mensch oder Tier ist. Und deshalb werden wir uns an die Behörden wenden."
„Das macht Gerard auch nicht wieder lebendig", flüsterte das Mädchen tonlos.
„Vater, denkst du auch an das Dämonenkind?"
Raffael hob den Kopf. „Was sagst du da?"
„Das Balg, das der schwarze Wesir Ramona anhängte!" drängte Matteo. „Weißt du nicht mehr, wie sehr wir alle darunter litten, von einem menschenfressenden Ungeheuer verfolgt und begleitet zu werden, wohin auch immer wir uns wandten? Immer wieder wurden Menschen umgebracht und von der kleinen Bestie aufgefressen! Und erst Dorian Hunter fand heraus, daß ausgerechnet du diese kleine Bestie in deinem Bauch herumtrugst, ohne es zu wissen! Du littest unter Magenschmerzen, sobald er mit seinen Gemmen und Dämonenbannern in deine Nähe kam, und das hat ihn darauf gebracht… "
Raffael nickte betroffen. „Ja", murmelte er. „Das hatte ich fast schon wieder vergessen… es ist so viel in der Zwischenzeit geschehen!"
Er trat als Schwertschlucker und Allesverschlinger in der Monströsitätenschau auf. Er konnte unglaubliche Mengen an allen möglichen Dingen in seinem Schlund verschwinden lassen und wieder herauswürgen. Selbst den Inhalt eines Aquariums mit lebenden Fischen… und die waren, wenn er sie wieder ausgespien hatte, immer noch putzmunter. Raffael Amalfi war ein Phänomen.
Und weil er so unheimlich viel in seinem Magen unterbringen konnte, hatte darin auch das Dämonenkind Platz gehabt. Das Kind der Zigeunerin Ramona und des schwarzen Wesirs. Als Hunter dann das Dämonenkind tötete, war darüber auch Ramona gestorben.
Aber das war doch alles lange her! Und es gab diese kleine Bestie nicht mehr, die es trotz ihrer geringen körperlichen Größe spielend schaffte, Menschen völlig zu verschlingen.
„Du meinst, da wäre wieder so eine Bestie?" keuchte Raffael. Unwillkürlich fuhr er sich mit der Hand über den Bauch.
„Nicht so eine, das ist zu unwahrscheinlich", sagte Matteo. „Aber die Gleichheit der Fälle gibt mir doch zu denken. Wir sollten vielleicht Dorian informieren. Ihn um Hilfe bitten. Er wird mit diesem Ungeheuer sicher besser und schneller fertig als die Polizei, die doch nicht daran glaubt und schließlich uns die Schuld geben wird - immerhin sind wir Zigeuner, nicht wahr?"
„Und darauf sind wir verdammt stolz, mein Junge", knurrte der Alte. „Wer Vorurteile gegen uns hegt, sollte erst mal vor seiner eigenen Tür kehren. In unsere Schau kommen sie gern, aber sobald wir bei ihnen auftauchen, dann sind wir Abschaum…"
„Wir sprechen nicht von der allgemeinen Situation, sondern von dem mordenden Ungeheuer, das Gerard Despense getötet hat", erinnerte Stefan, der Zweitälteste. „Vater, Dorian kommt doch ohnehin! Wir haben doch ihn und Coco Zamis eingeladen… da brauchen wir doch nur abzuwarten." „Trotzdem müssen wir die Polizei hinzuziehen", knurrte der Alte unwillig. „Wenn wir es nicht tun, sind wir noch schneller verdächtig. Man wird den Getöteten vermissen. Jemand geht zur Polizei, jemand erkennt, daß er zuletzt in unserer Nähe war, oben im Wald. Was wird man glauben? Einer von uns oder mehrere waren da oben, wollten das Mädchen schänden und haben Despense
Weitere Kostenlose Bücher