1374 - Wiege der Kartanin
Gewitter. Es blitzt und donnert. Da kommen drei Grazien auf mich zu. Sie tragen eine Opfergabe - ein geschlachtetes Tier... Nein, kein Tier, es handelt sich um ein ermordetes Intelligenzwesen. Ich fühle Schmerz und Trauer. Die Grazien trösten mich, aber sie erreichen nur, daß in mir lange vermißte Gefühle erwachen. Ich schäme mich, weil ich im Angesicht des Todes an Liebe denke. Keine Trauer mehr, kein Schmerz, nur Wonne. Dieses Hochgefühl endet auch nicht, als ich mich übergangslos in einer Folterkammer wiederfinde, ja, die mir zugefügten Schmerzen steigern mein Wonnegefühl zur Ekstase, bis ich meinen Geist in übergeordnete Bereiche katapultiere, und von dort sehe ich mich selbst, ich meine, meinen Körper, wie er sich Atom für Atom wieder zusammenfügt ... Ich bin einen Tod gestorben, aber es war nur ein kleiner Tod. Wohlige Müdigkeit überkommt mich, ich treibe im Nichts und warte - bangend und hoffend. Schmerzvolles Glück, erregender Schmerz ... Wie soll ich die Worte finden für die Erfahrung, die ich in diesem fremden Bereich mache ... .„Soweit Beodus Traum", schloß LEDA. „Er hat noch eine eigene Deutung hinzugefügt und gemeint, daß er vielleicht den Transfer nach Meekorah geträumt hat. Aber ich glaube ..."
„Geschenkt", sagte Rhodan. „Ich möchte nicht so tief in die Gefühlswelt Beodus eindringen, was du vielleicht nicht verstehen kannst."
„Sag nur das nicht", widersprach LEDA gekränkt. „Mi-Auwa hat mir bestätigt, daß ich ein gutes Einfühlungsvermögen habe. Du mußt wissen, daß ich mich mit der Kartanin nach der ersten Lektion über Meekorah-Kosmologie noch recht lange unterhalten habe. Mi-Auwa war, verglichen mit den anderen Vinauern, sehr fortschrittlich. Sie hatte hochtrabende Pläne."
„Welcher Art?" fragte Rhodan. „Sie war eine Rebellin, auch wenn das nicht so offen zutage trat", sagte LEDA mit wehmütigem Unterton. „Sie hat sich sehr abfällig über das Gesellschaftssystem geäußert, in dem sie aufgewachsen ist. Und sie verzweifelte fast an ihrem Unvermögen, verändernd einzugreifen. Aber es war ihr Ziel, eines Tages pragmatische Koordinatorin zu werden oder gar eine Konzession zu bekommen ... Nun wurden alle ihre hochfliegenden Pläne brutal zunichte gemacht."
„Mi-Auwa kommt also nicht als Agentin der Han-Shui-Kwon in Frage", dachte Rhodan laut. „Wie kannst du überhaupt an so etwas denken!" empörte sich LEDA. „Mi-Auwa war eine erklärte Gegnerin der Philosophie des Hexameron. Aber sie hatte auch genügend Feinde in den eigenen Reihen.
Sie war selbst den Gon-Wen unbequem, und sie verriet mir, daß Gil-Gor und sie öfter Stritten, als daß sie sich liebten. Sie konnte es kaum erwarten, daß Hangay endlich nach Meekorah transferiert wurde. Sie erhoffte sich davon neue Impulse für alle Hangayer. Sie sagte, der Hauch des Todes in Tarkan mache alle Wesen satt und zufrieden und lethargisch. Und sie glaubte fest daran, daß der Pulsschlag des Lebens in Meekorah für eine genetische Verjüngung sorgen würde."
„Ich hatte keine Ahnung, daß sie so romantische Vorstellungen von Kosmologie hatte", sagte Rhodan. „Mit mir hat sie nie in dieser Weise gesprochen."
„Sie war nicht bloß eine Romantikerin", erklärte LEDA. „Sie war auch willensstark und eine selbstlose Kämpferin, furchtlos und zielstrebig. Mi-Auwa trat unerschrocken gegen alle Mächtigen des Systems auf, nicht nur gegen Kartanin, sondern gegen alle Bonzen der Kansahariyya. Das ist ihre Bezeichnung für die Machthaber. Mi-Auwa hätte es sich verdient, ihre Ideen im Standarduniversum Verwirklichen zu dürfen."
„Schluß damit", sagte Rhodan schärfer, als er wollte, aber LEDAS Nachruf ging ihm sehr nahe. „Eines wäre dazu noch zu sagen - darf ich?" LEDA wartete einige Sekunden, und als Rhodan noch immer nichts sagte, wertete sie das als Zustimmung. „Wie alle Hangayer hat Mi-Auwa noch nie den Namen ESTARTU gehört, aber im Gegensatz zu den anderen hat sie deren Existenz nicht bestritten.
Wenn ESTARTU vor fünfundfünfzigtausend Jahren den Impuls für den Hangay-Transfer gegeben hat, meinte sie, und danach vom Hexameron besiegt und vernichtet wurde, dann waren die Völker der Kansahariyya in der Folge auf sich allein gestellt, so daß das Hexameron leichtes Spiel mit ihnen gehabt hat. Ich konnte der Kartanin nur zustimmen, daß es so ähnlich gewesen sein muß. Aber sie ging noch weiter. Hätten sich die Kartanin und die anderen einundzwanzig Völker in der Folge frei und pressionslos
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