1394 - Die Rachehexe
wie Musik, und Cornetta gab zu, ihn zuvor noch nie in ihrem Leben gehört zu haben.
»Woher kennst du mich?«
»Oh, das ist leicht gesagt und trotzdem schwer zu begreifen, wenn man nicht den Überblick besitzt. Ich sage mal so, Cornetta: Ich kenne alle, die zu mir gehören, auch dich.«
»Mich?«
»Sicher.«
»Woher denn?«
»Das sage ich dir später. Komm jetzt, bitte.«
Cornetta musste erst Atem holen, um die Frage stellen zu können.
»Und was ist mit ihm? Mit dem Toten?«
»Ist er tot?«
Sie hob die Schultern. »Weiß nicht…«
»Wir lassen ihn liegen. Er hat es nicht anders verdient. Denke daran, was er mit dir gemacht hätte. Er hätte dich erniedrigt. Er hätte dich beschmutzt. Du wärst kein Mensch mehr gewesen, das musst du mir glauben, Cornetta.«
»Das ist alles zu hoch für mich. Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich bin nicht mehr ich selbst. Ich habe etwas Schreckliches getan, denn…«
»Du hast dich nur gewehrt, Cornetta. Ich habe dich gesucht und gefunden, und ich bin froh darüber, dass es so passiert ist, denn ich brauche dich.«
Cornetta Schibone verstand die Welt nicht mehr. Nicht dass sie an ihrem eigenen Verstand gezweifelt hätte, aber jedes zweite Wort, das die fremde Person sagte, war für sie nicht verständlich. Das ging völlig an ihr vorbei, und so konnte sie nur die Schultern heben, denn die Worte waren ihr in der Kehle stecken geblieben.
Aber diese Assunga hatte Recht. Es war nicht gut, wenn sie am Tatort zurückblieb, wobei sie gedanklich über den Begriff Tatort stolperte. Sie fühlte sich nicht als Täterin, sondern als eine Frau, die sich nur hatte wehren wollen.
Alles, was sie hier erlebte, kam ihr vor wie eine Szene aus einer ihrer Geschichten, die sie schrieb. Sie arbeitete als Schriftstellerin, deren Romane sehr erotisch waren und fast an der Grenze zur Pornografie lagen. Aber sie wurden viel von Frauen gelesen und ließen sich recht gut verkaufen.
Die feuchte Kälte umgab sie wie ein Umhang. Obwohl sich Cornetta wieder angezogen hatte, fing sie an zu frieren. Sie sah auch den Dunst über der Fahrbahn liegen, der ihr vorkam wie ein nie abreißender weißer Bart.
Den Mann würde man finden. Es würden Nachforschungen angestellt werden. Man würde auch das verdammte Messer genau untersuchen, und Cornetta wusste auch, dass ihre Fingerabdrücke auf dem Griff zu finden waren, und so war es besser, wenn sie sich in Sicherheit bringen ließ, obwohl ihre Prints nicht registriert waren.
Für sie war Assunga noch immer eine irgendwie unwirkliche Gestalt. Zwar kein Geist, aber jemand, der einfach nicht in das normale Leben gehörte.
Sie ging zu ihr und fragte: »Was passiert jetzt?«
»Lass uns ein Stück gehen.«
»Und dann?«
»Werde ich dir alles erklären, Cornetta. Du wirst erleben, dass du stolz auf dich sein kannst.«
»Meinst du?«
»Ja, das meine ich. Ich habe dich doch nicht grundlos gesucht. Jetzt bin ich froh, dass ich dich gefunden habe, denn nun wirst du die wahre Bestimmung deines Schicksals erleben.«
»Ich kenne mein Schicksal.«
»Nein, das kennst du nicht. Niemand kennt sein Schicksal, das musst du mir schon glauben. Aber ich bin in der Lage, es zu beeinflussen, und das ist für dich sehr wichtig.«
Cornetta Schibone wollte sich dies alles durch den Kopf gehen lassen. Vergeblich, es war nicht zu schaffen. Sie befand sich nicht in der Lage, eine Erklärung abzugeben. Gewisse Dinge – Tatsachen in diesem Fall – liefen einfach an ihr vorbei.
Assunga öffnete ihren Mantel. Darunter trug sie ein hautenges schwarzes Kostüm, und Cornetta sah auch, dass das Innenfutter des Mantels in einem hellen Gelb schimmerte. Sie war etwas irritiert, und ihre Irritation nahm zu, als sie erfuhr, was die fremde Person von ihr wollte.
»Bitte, umarme mich.«
»Ähm…« Das passte nicht. Sie konnte sich nicht vorstellen, warum die andere Person das sagte.
»Wollten wir nicht weg?«, fragte Cornetta.
»Ja, das wollten wir.«
»Warum soll ich dich dann…«
»Es ist besser für dich.«
Cornetta Schibone nickte. Ja, sie hatte Recht. Es war wohl besser für sie, denn sie musste auch daran denken, wer ihr das Leben gerettet hatte. Sie wollte sich nicht undankbar zeigen. Deshalb ging sie die letzten Schritte auf Assunga zu.
Dabei schaute sie über deren Schulter hinweg und sah in der Ferne das verschwommene Licht, das sich bewegte.
Der Bus kam.
Wenn sie jetzt noch länger zögerte, wäre alles zu spät. Sie wusste, dass sie verschwinden musste.
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