1188 - Wartesaal zum Jenseits
Schlagartig. Urplötzlich. Vorbei. Mitten in ihrer kleinen Wohnung und direkt vor dem Altar, an dem sie jeden Abend gekniet und gebetet hatte.
Tessa hatte sie gefunden. Die junge Frau schüttelte den Kopf, als sie daran dachte. Sie hörte nicht, dass der Pfarrer weiterredete, ihre Gedanken glitten zurück, und sie erinnerte sich deutlich an den Gesichtsausdruck der toten Mutter.
Er war so anders gewesen. Nicht zu einer Toten passend, wenn man so wollte. Verklärt, und auf eine gewisse Art und Weise sogar glücklich. Weit geöffnete Augen. Mit einem seltsamen Glanz darin, als hätte die Mutter etwas sehr deutlich gesehen, was den noch lebenden Menschen verborgen blieb.
Das konnte alles Mögliche gewesen sein. Tessa hatte lange vor der Mutter gestanden und sie betrachtet. Dabei war ihr in den Sinn gekommen, dass die Tote bereits in den letzten Minuten des Lebens einen Blick in das Jenseits hatte werfen können. Hinein in den Himmel mit all seiner Herrlichkeit.
Jetzt war alles vorbei. Die drei Tage vor der Beerdigung waren für Tessa ein Albtraum gewesen. Sie hatte ständig das Gefühl gehabt, neben sich zu stehen oder die Welt durch einen Filter wahrzunehmen.
Nun lag die Mutter im Sarg. Im Grab. Auf einem Friedhof. Sogar auf dem kleinen Hügel. Das hatte sie sich immer gewünscht. Man hatte von hier einen wunderschönen Blick über das gepflegte Gelände mit seinen Hecken und den krummen Bäumen, die ihr buntes Kleid längst abgelegt und auf dem Boden verteilt hatten.
Tessa sah die dunklen Vögel, wenn sie den Blick anhob, aber sie sah auch die grauen Dunstschleier, die in den Monat November hineinpassten und den Friedhof zu erobern begannen. Vor einer Stunde hatte noch die blasse Wintersonne geschienen. Jetzt nicht mehr.
Sie war fast verschwunden und abgetaucht in den grauen Dunst, sodass sie wie eine zerfranste Scheibe wirkte.
Tessa holte tief Luft. Sie schluckte. Sie hatte sich vorgenommen, nicht zu weinen. Sie tat es trotzdem. Es stand nur sie als Verwandte am Grab. Den Vater gab es nicht mehr. Er war irgendwann einmal gegangen. Zur See gefahren und nicht mehr zurückgekehrt. Marga hatte mit ihrer Tochter nie über die Gründe gesprochen, und Tessa hatte auch nicht fragen wollen.
Dennoch waren einige Menschen zusammengekommen. Auch in der Totenmesse hatten sie auf den Bänken gesessen. Fremde Menschen für Tessa. Ihrer verstorbenen Mutter mussten sie jedoch vertraut gewesen sein.
Nicht weinen. Du hast schon genug geweint. Immer wieder hämmerte sie sich den Satz ein. Sie wusste selbst nicht, aus welchem Grund sie das tat. Es war einfach so. Die Tränen anhalten. Keine Blöße zeigen. Sich zusammenreißen, den anderen keine Munition liefern. Außerdem fühlte sich Tessa ständig beobachtet von diesen fremden Augen, in die sie kaum hineinzuschauen wagte.
Einige Male hatte sie es getan und rasch wieder zur Seite geblickt. Die Blicke der Trauergäste hatten ihr einfach nicht gefallen. Sie waren ihr zu vorwurfsvoll gewesen, als gäben die Menschen ihr am Tod der Mutter die Schuld. Es mochte ein Irrtum gewesen sein, aber so war es ihr vorgekommen.
Als Tochter musste sie direkt in der Nähe des offenen Grabes stehen. Wäre es nach ihr gegangen, sie hätte sich mehr nach hinten gestellt, aber das konnte sie sich nicht leisten.
Der Geistliche sprach noch immer. Sie hatte ihn zu Lebzeiten ihrer Mutter nicht gekannt. Er war aber ein Vertrauter ihrer Mutter gewesen und hatte alles an sich gerissen. Jeden Tag war sie in die kleine Kirche gegangen, die so idyllisch lag, gar nicht mal weit vom Friedhof entfernt, und jetzt ebenfalls von Nebelschwaden umschlossen wurde.
Es war eine Welt der Trauer geworden. Eine der Tränen und auch der starren Gesichter, denn sie schauten einzig und allein auf die junge Frau am Grab. Es kam ihr auch weiterhin so vor, als würde nur sie angeschaut werden und niemand sonst.
Tessa bewegte sich etwas zurück. Sie drehte jetzt den Kopf. Sie sah die Gesichter, die oft nur blassen Flecken glichen. Frauen und Männer. Unterschiedlich vom Alter her. Sehr bewegungslos, irgendwie auch in der Trauer erstarrt.
Fast wie Zombies, dachte Tessa und spürte die Gänsehaut auf ihrem Körper noch intensiver.
Schuld? Muss ich mir die Schuld geben? Nein, das sicherlich nicht, obwohl die Menschen um sie herum so aussahen, als wollten sie der Tochter allein die Schuld geben. Harte Blicke, auch wissende. Tessa merkte den leichten Schwindel. Am liebsten hätte sie um sich geschlagen und die Meute
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