142 - Der Bluttempel
er eigentlich verhindern hatte wollen: sie in Gefahr zu bringen.
Mühsam zügelte er seine Gedanken. Der Fette konnte jeden Moment erwachen. Eine kurze geistige Überprüfung seines Gefangenen, und Pjotr wusste, was Matt vorhatte. Deswegen musste er sich ablenken. Sich mit etwas ganz anderem beschäftigen.
Geritsa hatte sich indes in den Hintergrund der Zelle zurückgezogen. Mit angezogenen Beinen schaukelte sie vor und zurück, vor und zurück.
Er setzte sich zu ihr, legte ihr beruhigend die Hände auf die Schulter.
Das Mädchen stank. Offenbar hatte es seit Tagen oder Wochen keine Gelegenheit mehr gehabt, sich zu waschen oder das Gewand zu wechseln. Zudem war es auf dem Fettklops geritten…
»Ich hatte keinen Sex mit ihm«, flüsterte Geritsa leise, als hätte sie seine Gedanken erkannt.
»Nicht? Aber ich dachte…«
»Er genießt es, Ängste und Widerwillen in sich aufzunehmen. So lange, bis nichts mehr da ist. Bis der Kopf leer gebrannt ist und man nichts mehr empfindet. Er lässt uns Sklavinnen auf sich herumhopsen. Pjotr macht uns mit Drogen gefügig, um seine Konzentration nicht immer auf uns alle verteilen zu müssen…«
»Also kann er sich immer nur einigen wenigen Menschen widmen?«
»So ist es. Deswegen liefert ihm der Mann von der Oberfläche Giftstoffe, die er von seinen Adepten zusammenmischen lässt. Sie betäuben unsere Reaktionen, schärfen aber gleichzeitig die Empfindungen.«
Das Gift der Tiere des Schlangenhändlers half dem Obersten der Noskopzen also, seine Sklaven gefügig zu halten.
»… wir reiten auf ihm, aber Sex? Nein. Dazu ist er nicht mehr fähig.«
»Ich verstehe nicht…«
»Es ist ein ehernes Ordensprinzip, das Aufnahmeritual der Noskopzen. Es besteht aus zwei Operationen mit stumpfen Messern, bei denen sie sich kastrieren lassen.«
***
Kastraten! Das war der letzte Puzzlestein gewesen. Die Erinnerung traf Matt wie ein Schlag. Noskopzen. Flagellanten.
Pjotr der Vierte… Endlich wusste er, warum ihm das so bekannt vorgekommen war. Aus einer CBS-Dokumentation über die Zeit vor der Russischen Revolution!
Bereits im 18. Jahrhundert hatte sich eine kleine, aber einflussreiche Sekte in Russland ausgebildet, deren Anhänger sich Skopzen nannten. Sie hatten ein wirres, kaum durchschaubares Glaubensbild besessen, in dessen Mittelpunkt, wenn er sich richtig erinnerte, Zar Peter der Dritte gestanden hatte. Kernpunkt des Skopzentums war die Abtragung und Verstümmelung der Geschlechtsteile gewesen, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Sie hatten dem Klerus in erbitterter Feindschaft gegenüber gestanden und im Verlauf eines ganzen Jahrhunderts am Hofe der Zarendynastien großen Einfluss gewonnen. Auch Rasputin, dem man orgiastische Exzesse mit Frauen nachgesagt hatte, sollte unter dem Einfluss der Skopzen gestanden sein.
Im 20. Jahrhundert war die Sekte scheinbar verschwunden, von der Moderne und Aufgeklärtheit der Menschen hinweggeschwappt. Doch auf eine wohl nicht mehr nachvollziehbare Weise gab es in diesen düsteren Tagen eine Renaissance des Skopzentums. Die geheimnisumwitterte Sekte war eine unheilvolle Allianz mit Splittergruppen der blutkranken Nosfera eingegangen. Der heutige Anführer, Pjotr der Vierte, betrachtete sich offensichtlich als legitimer Nachfolger und Erlöser seiner Gefolgsleute.
»Was ist los mit dir?«, fragte Geritsa ohne besonderes Interesse.
»Ich habe mich nur an etwas erinnert«, erwiderte Matt. »An die Ursache diesen ganzen Irrsinns.« Er seufzte und zuckte mit den Schultern. »Aber schlussendlich spielt es keine Rolle.«
Denn momentan ging es ausschließlich darum zu überleben.
Und um das zu schaffen, musste er sich ablenken. Mit keinem seiner Gedanken durfte er an Aruula streifen.
»Erzähl mir aus deinem Leben«, forderte Matt die Sklavin auf. »Was hast du früher gemacht, wie bist du hierher gelangt.«
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle?« Sie seufzte, und die Nerven ihres zernarbten Gesichts verzerrten die Muskeln auf eine abstruse Art und Weise.
»Wir sind Menschen«, erwiderte Matt. »Solange wir uns daran erinnern, solange besteht Hoffnung, dass wir diesem Monstrum widerstehen können.« Er beugte sich zu ihr hinab und kümmerte sich weiter um die Pflege ihrer Narben, während Geritsa zu erzählen begann.
***
Das Steinrad rollte beiseite und der Vogelhändler trat hervor.
Das Tor schloss sich augenblicklich wieder hinter ihm.
»Wo ist Maddrax?«, fuhr Aruula ihn an. Aggressiv, aber auch voller Sorge.
»Er
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