1437 - Der weibliche Tod
waren geschlossene Einheiten. Wer die dort liegenden Toten besuchen wollte, der musste einen Stein anheben und den Weg in die Tiefe freilegen.
Das brauchte sie nicht, denn es trat genau das ein, was sie sich gewünscht hatte. Sie entdeckte die Frau in der rechten offenen Gruft.
Dora wollte schon hinlaufen, als sie sich zusammenriss und zunächst stehen blieb.
War sie das wirklich, oder hatte die Umgebung sie getäuscht?
Dora wollte näher heran. Sie war jetzt von einer inneren Spannung erfasst worden und hatte das Gefühl, vor der wichtigsten Entdeckung in ihrem jungen Leben zu stehen. Dass sie sich dabei auch in Gefahr begeben konnte, daran verschwendete sie nicht einen Gedanken. Etwas zog sie unwiderstehlich auf die Gruft zu, damit sie dort alles so deutlich wie möglich sehen konnte.
Eine Frau mit filigranen Flügeln, die sich möglicherweise in die Luft erheben konnte. Gesehen hatte Dora das nicht, aber sie konnte es sich sehr gut vorstellen. Natürlich hatte sich der Gedanke an einen Engel in ihr gefestigt, obwohl sie sich einen Engel immer anders vorgestellt hatte. Möglicherweise war diese Person ein besonderer Engel, einer, der sich mit dem Tod verbündet hatte.
Aber sie spürte auch die Angst. Eine innerliche Bedrückung, die sie nicht mehr losließ. Ein Zittern erfasste sie, und die Knie wurden ihr plötzlich weich.
Die ungewöhnliche Frau tat nichts. Sie kniete weiterhin auf dem Boden. Allmählich schälten sich immer mehr Einzelheiten hervor.
Der Rücken bildete einen Halbbogen. Die Arme waren angewinkelt, und die beiden Ellbogen ruhten auf der Steinplatte eines Sarkophags. Die Stirn hatte sie gegen ihre Handballen gedrückt, und wer sie in dieser Haltung sah, der musste annehmen, das hier eine Person saß, die in ein tiefes Gebet versunken war.
Als ihr das Wort Gebet in den Sinn kam, war Dora auch in der Lage, etwas vom Verhalten der Person zu begreifen. Sie war zu einer Grabstätte gegangen, deren Inhalt sehr wichtig für sie sein musste. Jetzt war sie da, betete für den Toten und trauerte zugleich um ihn.
Dora hatte in ihrem Leben bereits an zwei Beerdigungen teilnehmen müssen. Sie kannte die Spielregeln, aber so wie diese seltsame Person hatte sich bei den Beerdigungen keiner benommen. Hier musste es zwischen dem Toten und der seltsamen Besucherin schon ein besonderes Verhältnis geben.
Noch war sie nicht bemerkt worden. Die Nackte mit den filigranen Flügeln blieb in ihrer demutsvollen Haltung. Im Mondlicht sah der Körper aus, als hätte er an manchen Stellen helle Flecken bekommen.
Dora lauschte auf ihre innere Stimme. Möglicherweise war da etwas, das sie warnte. Sie spürte nichts, sie empfand nicht mal Angst, aber ein bestimmtes Gefühl ließ sich einfach nicht vertreiben. Auch deshalb nicht, weil es einfach zu menschlich war.
Neugierde!
Sie wollte Bescheid wissen, und sie hatte auch vor, mit dieser Person zu kommunizieren. Sie anfassen, sie ansprechen und ihr dabei Fragen stellen.
Es waren noch zwei Schritte bis zum Ziel. Dora überlegte sich bereits die entsprechenden Worte, die sie möglichst neutral sprechen wollte, als etwas passierte, das ihre Pläne über den Haufen warf.
Die Fremde bewegte sich und verlor damit ihre starre Haltung.
Dora hatte es nicht einkalkuliert, und so zuckte sie zusammen. Mit Mühe unterdrückte sie einen Laut der Überraschung. Sie traute sich allerdings nicht, näher an die Person heranzugehen, und sie hatte völlig vergessen, dass sie die Person hatte ansprechen wollen.
Die Fremde richtete sich auf.
Dora schaute gebannt zu.
Jetzt sah sie, dass die Flügel nicht nur aus einem dünnen, leuchtenden Draht bestanden, denn über den filigranen Verstrebungen spannte sich eine Haut, die erst beim zweiten Hinsehen zu erkennen war. Vergleichbar mit einer dünnen Gaze.
Die Fremde stand auf. Sehr bedächtig.
Sie stützte sich dabei mit ihren Handflächen auf der steinernen Platte ab, und so etwas wie ein leiser Jammerlaut drang aus ihrem Mund.
Aufrecht blieb sie stehen und schaute nun auf den Sarkophag hinab. Dora blickte auf den Rücken und die Flügel. Das dünne Material zwischen den »Drähten« zitterte, sodass sie schon an eine dünne Nervenhaut dachte.
Eigentlich hätte sie jetzt weglaufen müssen, doch das schaffte sie nicht. Etwas bannte sie auf die Stelle, weil sie instinktiv wusste, dass noch was passieren würde.
In die Fremde kam Bewegung.
Zuerst war es nur ein Zucken, dann drehte sie sich langsam um.
Dora glaubte, dass sie es tat,
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