1445 - Holt mich aus der Hölle!
wirklich alles gesehen habe.«
»Das verstehe ich nicht.«
Erst als Glenda auf den Stuhl gesunken war, berichtete ich von Anfang an.
Glendas Haut nahm fast die Farbe ihres Pullovers mit dem weiten, vorstehenden Rollkragen an. Man konnte die Farbe auch als knochenbleich beschreiben.
»Hast du das wirklich alles so erlebt, wie wir es gehört haben?«
»Ja.«
»Dann kann das durchaus eine Botschaft gewesen sein.« Sie zielte mit dem Zeigefinger auf mich. »Eine Botschaft aus dem Reich der Toten. Oder der toten Kinder.«
»Meinst du?«
»Ja, was sonst, wenn wirklich alles so zutrifft, wie du es eben erzählt hast.«
»Kann es nicht auch ein Hilferuf gewesen sein?«, fragte Suko.
Ich nickte. »Daran habe ich auch schon gedacht.«
»Und das Kind hat nur geschrien, John?«
Ich lächelte Glenda zu. »Dabei weiß ich nicht mal, ob es geweint oder gelacht hat.«
»Hat es denn nicht gesprochen?«
»Leider nicht. Ich weiß nur das, was ich euch gesagt habe. Alles andere ist reine Spekulation.«
»Gehst du denn davon aus, dass es sich noch mal meldet?«
»Warum nicht?«
»Dann musst du es fragen«, flüsterte Glenda. »Versuch doch mal, mit ihm in ein Gespräch zu kommen. So würde ich verfahren.«
Damit hatte sie keinen schlechten Vorschlag gemacht. Ich musste nur darauf warten, dass sich der Vorgang wiederholte.
Glenda schaute zu Boden und hob die Schultern. »Ein unschuldiges Kind, eine unschuldige Kinderseele, John. Kannst du dir darunter mehr vorstellen? Ich meine, könntest du dich mit dem Gedanken anfreunden, dass du eine Botschaft aus dem Jenseits erhalten hast? Dass es irgendetwas gibt, das diese Kinderseele nicht zur Ruhe kommen lässt? Wäre so etwas möglich?«
»Darüber habe ich auch nachgedacht. Um es allgemein zu sagen: Ich schließ es nicht aus.«
»Und es hat dich erwählt, um sich zu zeigen«, sagte sie. »Nicht Suko oder mich, sondern dich.«
»Stimmt.«
»Was müssen wir daraus schließen?«
»Dass es sich von John entsprechende Hilfe erhofft«, sagte Suko sofort.
»Ja, das meine ich auch.«
Ich lächelte in die Runde. »Es ist ja alles ganz gut und schön. Aber ich frage mich, wobei ich helfen könnte. Ich sehe da leider nichts Konkretes. Da war nur das Weinen oder vielleicht auch Lachen. So genau weiß ich das nicht.«
»Bestimmt kein Lachen«, meinte Glenda und wollte wissen, wie gut ich das Gesicht im Spiegel gesehen hatte.
»Nicht besonders. Du kannst dir ja vorstellen, dass bei einem beschlagenen Spiegel das Bild verschwimmt.«
»Klar, das kann ich.«
»Ich habe es vorher auch noch nie gesehen. Wenn wir etwas herausfinden wollen, dann müsste sich die Erscheinung wieder melden und…«
Sie meldete sich. Es passierte so plötzlich, dass ich mitten im Satz unterbrochen wurde.
Plötzlich hörte ich das Weinen. Es glich mehr einem Jammern, als befände sich das kleine Wesen in einer schrecklichen Gefahr.
Keiner von uns sagte mehr etwas. Wir saßen angespannt auf unseren Plätzen. Unsere Gesichter waren erstarrt.
Glenda hörte es ebenso wie Suko. Beide konnten sich keinen Reim darauf machen. Es befand sich auch kein Spiegel im Büro, in dem wir ein Gesicht hätten sehen können. Nur das Weinen war zu hören, und das klang schlimm.
»Es jammert«, flüsterte Glenda. »Als wollte es nach Hilfe rufen.«
Das konnte ich nur unterstreichen, aber ich hatte zugleich ein Problem. Ich wusste nicht, woher das Schreien kam. Das heißt, ich ahnte es, aber noch weigerte ich mich, das zu akzeptieren.
Wir saßen auf unseren Stühlen, lauschten.
»Mein Gott«, sagte ich dann.
»Wieso?«, flüsterte Glenda.
»Ich weiß jetzt, woher das Weinen kommt.« Ich deutete auf meine Brust.
»Aus dir?«, fragte Suko.
»Nein, nicht aus mir.«
»Aus dem Kreuz!«, rief Glenda.
»Genau!«
***
Das war in der Tat ein Hammer, der uns so traf, dass wir zunächst schwiegen. Ich wusste nicht, welche Gedanken durch die Köpfe meiner Freunde huschten, ich jedenfalls saß da wie vom berühmten Blitz getroffen.
Unzählige Male hatte ich mein Kreuz hervorgezogen und es präsentiert. Es hatte mich beschützt, ich hatte es gegen die schlimmsten Gegner eingesetzt. Das war im Moment alles vergessen. Ich schaute auf meine Hände, deren Finger leicht zitterten, und traute mich nicht, etwas zu unternehmen.
Das Weinen war noch da. Allerdings war es in ein Wimmern übergegangen, das man auch als Hilferuf bezeichnen konnte.
»Du musst es freilegen, John!«, flüsterte Glenda mir zu.
»Sicher.«
Ich hatte meine
Weitere Kostenlose Bücher