1449 - Der Knochentempel
den Boden zur gegenüberliegenden Seite des Beinhauses hinweg, ohne sie allerdings zu erreichen.
Unterwegs, ungefähr auf halber Strecke, kam er zur Ruhe. Der Kegel fiel auf ein Ziel.
Es war ein Mann. Er lag bäuchlings auf dem Boden, beide Hände zur Seite gestreckt. An seinem Hinterkopf schimmerte es dunkel und feucht. Das war wegen der blonden Haare gut zu sehen.
»Er ist tot«, sagte Ampitius mit leiser Stimme. »Man hat ihm den Schädel eingeschlagen…«
***
Der Maskierte stieß seine Faust nach vorn.
Betty Grinth hatte noch nie in ihrem Leben einen Schlag ins Gesicht bekommen. Jetzt musste sie das erleben. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihren Kopf, sie riss den Mund auf, ohne jedoch zu schreien, und wurde zurück bis zur Wand gestoßen. Sie prallte dagegen und merkte, dass ihr die Knie weich wurden, sodass sie einknickten.
In dieser Hockhaltung blieb sie. Ihre Augen waren weit aufgerissen. In den ersten Sekunden dachte sie an nichts. Bis ihr in den Sinn kam, dass sie nicht allein war und der Name ihres Sohnes durch ihren Kopf schrillte.
O nein! Stevie!
Sie wollte nach ihm rufen, doch es ging nicht. Ihre Kehle saß zu, der stechende Schmerz raste durch ihren Kopf, und dann hörte sie Stevie schreien und ein hartes Klatschen.
Mein Gott, er schlägt Stevie!
Das war wie ein Adrenalinstoß. Sie dachte nicht mehr an sich. Sie konnte nicht hocken bleiben. Sie musste hoch und sich um Stevie kümmern.
Sie schaffte es nicht. Der Treffer hatte ihr die Energie genommen.
Sie drehte sich zur Seite, um sich mit dem linken Arm abzustützen.
Dabei schaute sie aus der Hocke nach vorn – und sah den Maskierten. Sie bekam zwar alles nur verschwommen mit, aber sie wurde schon Zeugin, wie er sich bückte und nach dem Schädel griff.
Deshalb war er hier!
Mit beiden Händen hob er ihn an. Betty sah, dass er Handschuhe trug. Von Stevie entdeckte sie nichts. Er musste sich irgendwo im Hintergrund aufhalten. Hoffentlich hatte man ihm nicht so wehgetan.
Der Maskierte richtete sich auf und verharrte für einen langen Augenblick in seiner Haltung. Den Kopf hatte er Betty zugedreht. Da er nichts tat, schien er zu überlegen, und die schlimmsten Vorstellungen schossen der Frau durch den Kopf.
Jetzt denkt er darüber nach, ob er dich tötet oder nicht! Du bist eine Zeugin und…
Der Maskierte trat einen Schritt auf sie zu – und dann zur Seite.
Den Schädel hatte er unter seinen linken Arm geklemmt. Er warf noch einen letzten scharfen Blick auf die Frau, zischte einen Fluch und drehte sich der Tür zu.
Dann war er weg!
Die Tür fiel ins Schloss, und Betty Grinth hockte noch immer an der Wand. Sie fragte sich, ob all das, was sie eben erlebt hatte, Wirklichkeit gewesen war. Es kam ihr vor wie ein böser Traum, aus dem sie soeben erwacht war.
Aber bekam man Nasenbluten im Traum? Erlebte man die Schmerzen, die sich durch den gesamten Kopf zogen?
Nein, nicht im Traum. Was sie durchlitten hatte, das war die brutale Wirklichkeit gewesen.
Warm rann es aus ihren Nasenlöchern. Das Blut suchte sich seinen Weg und erreichte die Lippen. Da sie den Mund nicht ganz geschlossen hatte, spürte sie den typischen Geschmack. Etwas metallen und zugleich süßlich.
Sie konnte nichts sagen. Die Schmerzen verschlossen ihr den Mund. Nur ein Röcheln drang aus ihrer Kehle, und sie hatte jetzt nicht mehr die Kraft, sich zu erheben. Dieser Überfall war an einem Ort geschehen, an dem sie sich so sicher gefühlt hatte. Jetzt war es damit vorbei. Der Maskierte war in die Wohnung eingedrungen, hatte sie brutal überfallen und den Totenschädel mit sich genommen. Es war ihm einzig und allein auf ihn angekommen.
»Mummy…?«
Die zaghaft klingende Stimme ihres Sohnes riss sie aus ihren Gedanken. Meine Güte – Stevie!
Erneut drehte sie sich nach links, da von dort die Stimme aufgeklungen war. Sehen konnte sie noch, nur nicht so scharf. Der Körper ihres Sohnes war mehr ein Umriss, und der verschwamm vor ihren Augen. So sah sie nur eine Gestalt, die auf sie zulief und sich vor sie kniete.
»Mum, du blutest ja!« Stevies Stimme klang zittrig.
»Ja«, flüsterte sie, »ich blute.«
»Ist der Mann weg?«
»Zum Glück.«
»Warte, ich nehme mein Taschentuch.«
Er meinte es ja gut, doch als er die Nase seiner Mutter berührte, schrie sie leise auf.
»Bitte, nicht, da ist wohl etwas gebrochen.«
»Was soll ich denn sonst tun?«
»Erst mal nichts. Ich denke, dass die Polizei gleich hier sein wird. Ich muss aufstehen. Hilf mir mal hoch,
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