1449 - Der Knochentempel
Grinth lachte, was sich aber nicht fröhlich anhörte. »Und da liegen die Schädel einfach so herum, wie?«
»Ja – ähm – nein…«
»Wie denn?«
Stevie nickte. »Ja, der lag da herum. Im Park. An einem Gebüsch. Ich bin ja zu Fuß gegangen, weil mein Bike kaputt ist. Da habe ich ihn dann gefunden.«
»Einfach so?«
»Ja, Mum. Den muss jemand verloren haben.«
Betty schüttelte den Kopf. Sie fasste es noch immer nicht. »Wer verliert schon Totenschädel?«, flüsterte sie. »Verdammt noch mal, das ist nicht möglich.«
»Er lag aber da.«
»Das glaube ich dir sogar. Nur ist es noch lange kein Grund, ihn in deine Schultasche zu packen und ihn mit nach Hause zu bringen. Ist das klar, mein Sohn?«
»Ich habe es verstanden.«
»Sehr gut, Stevie. Das ist schon ein Fortschritt. Aber ich weiß noch immer nicht, warum du ihn eingepackt und mit nach Hause gebracht hast. Das ist mir ein Rätsel.«
»Du hast ihn ja nicht sehen sollen.« Stevie drehte sich wieder zu seiner Mutter um.
»Aha. Und was wolltest du mit ihm?«
Stevie hob die Schultern. »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
Betty ließ dies zunächst so stehen. Sie wollte nicht weiter in ihren Sohn dringen. Wahrscheinlich hatte er vorgehabt, andere Menschen mit dem Totenschädel zu erschrecken. Möglicherweise wollte er den Fund auch seinem Vater zeigen, der als Biologe an einem Institut für Virenforschung arbeitete und der sich bestimmt für den Fund interessiert hätte.
Das alles war jetzt unwichtig geworden. Es zählte einzig und allein der Schädel, und Betty wollte Ihn keine Minute länger als unbedingt nötig in ihrer Wohnung haben.
»Stevie«, sagte sie mit entschlossen klingender Stimme, »dir muss klar sein, dass ich einen Totenschädel nicht in meinem Haus dulden werde. Haben wir uns verstanden?«
Stevie nickte. »Soll ich ihn wieder wegbringen?«
»Nein, du nicht!«
»Du, Mum?«
»Bist du verrückt? Ich fasse das verdammte Ding nicht mal mit der Kneifzange an.«
»Wer soll es dann tun?«
Betty Grinth atmete tief durch. »Ich werde jetzt die Polizei anrufen. Man soll einen Beamten herschicken, der den Schädel abholt. Man wird dir bestimmt Fragen stellen, die du beantworten musst. Ich weiß es nicht genau, ich kann mir allerdings vorstellen, dass du durch den Fund auf die Spur eines Verbrechens gekommen bist. Das ist alles möglich, und ich will auf Nummer Sicher gehen.«
Der Zwölfjährige nickte. Er wagte nicht, seine Mutter anzuschauen. Das schlechte Gewissen war ihm von der Stirn abzulesen. Zusammen mit seiner Mutter ging er in den gemütlich eingerichteten Wohnraum, in dem sofort die beiden Aquarien auffielen, die übereinander gestellt waren. In den beiden Becken tummelten sich zahlreiche kleine Fische. Manche zeigten die wunderbarsten Farben.
Gordon Grinth liebte die Fische. Sie zu betrachten, das bedeutete für ihn die reinste Erholung und den Abbau von Stress.
Es fiel Betty Grinth nicht leicht, die Polizei anzurufen. Sie kam sich dabei selbst etwas komisch vor, wenn sie den Beamten von einem Totenschädel in der Schultasche berichtete. Sie überlegte sich die Worte genau und schaute dabei durch das Fenster auf die Rückseite des Mietshauses. Sie wohnten Parterre. Deshalb schweifte ihr Blick auch durch den hinter dem Haus angelegten Garten, der von allen Mietern benutzt werden konnte.
Als sie gewählt hatte, wusste sie noch immer nicht so recht, was sie sagen sollte. Schließlich überwand sie sich. Denn jetzt musste sie etwas sagen.
»Mein Name ist Betty Grinth. Bitte, ich möchte, dass jemand zu mir kommt, weil mein Sohn einen Totenschädel gefunden und diesen mit nach Hause gebracht hat.«
Die Befürchtung, dass man sie nach dieser Meldung auslachen würde, trat nicht ein. Wahrscheinlich waren die Polizisten einiges gewohnt.
»Wo wohnen Sie, Mrs Grinth?«
Sie gab die Adresse durch.
»Und Sie sind sicher, dass es sich bei dem Fund um einen echten Schädel handelt?«
»Das bin ich.« Sie hatte zwar überzeugend gesprochen, aber so sicher war sich Betty auch nicht. Jetzt war es heraus, und sie wollte es auch nicht mehr zurücknehmen.
»Gut, dann werden Sie bald Besuch bekommen«, erklärte der Beamte. »Ich kann Ihnen allerdings keine genaue Zeit angeben und denke, dass es noch dauern wird.«
»Ja, verstehe.«
»Und bitte, Madam, fassen Sie den Schädel nicht an. Lassen Sie ihn liegen. Wir kümmern uns darum.«
»Danke.«
Jetzt war ihr wohler. Sie legte den Hörer zurück und schloss für einen Moment
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