1472 - Wahnsinn in Manhattan
Erlebnis sein und unvergesslich für dich werden. Wer dich kennt, wird dich als einen neuen Menschen erleben.«
Es gab keinen Widerspruch. Weder von der Frau noch von den Zuschauern. Alles lief ab, als wäre es geplant und schon oft genug in einer Probe geübt worden.
Die Frau ging auf die Bühne zu. Und die Schlange blieb an ihrer Seite.
Es sah so aus, als wollte sie die Zuschauerin nur begleiten, aber das traf nicht zu. Sie war sehr flink, umschlang die rechte Wade der Frau und glitt daran in die Höhe. Im nächsten Moment war sie schon unter dem Rock verschwunden.
Die Frau tat nichts. Sie schrie nicht, sie wehrte sich nicht, sie ging einfach nur weiter, obwohl sie den Schlangenkörper auf der nackten Haut spürte.
Der Tod verwandelte sich in einen Kavalier. Er trat bis dicht an die Rampe heran und streckte der Frau die linke Hand entgegen, um ihr auf die Bühne zu helfen.
Sie ließ es zu.
Ein langer Schritt, dann ein kurzer Ruck, und sie hatte den Bühnenboden betreten.
Der Tod führte sie an der Hand im Kreis, und plötzlich war die Schlange wieder da.
Diesmal war sie nicht am Körper der Frau zu sehen. Sie glitt über den Boden, der ihr neues Revier geworden war, und ihr Ziel war der umgekippte Kopf der Freiheitsstatue, der als Symbol der Zerstörung diente.
Kein Zuschauer griff ein. Alle Anwesenden schienen unter Hypnose zu stehen. Hier hatte eine andere Macht den menschlichen Willen und jedes menschliche Handeln erstickt. Es passierte alles sehr langsam und ohne dass ein Worte gesprochen wurde.
Der Tod hielt auch weiterhin die Hand der Frau fest. Er drehte sich mit ihr um die eigene Achse und klopfte in einem bestimmten Rhythmus auf den Bühnenboden.
Die Echos reichten auch jetzt bis in die letzte Reihe, aber sie veranlassten niemanden zu irgendeiner Reaktion. Nach wie vor blieb die Stille im Zuschauerraum bestehen.
Bis der Tod stehen blieb. Er und seine Mitspielerin schauten in den Zuschauerraum hinein, ohne die Menschen jedoch anzusprechen.
Die reine Gestik musste reichen.
Noch war es zu keinem Spiel auf der Bühne gekommen. Das Schauspiel war noch nicht im Gange. Man konnte die Szene höchstens als Vorspiel betrachten, und dabei blieb es auch.
Abgesehen davon, dass der Tod anfing zu sprechen, und das tat er mit einer sehr lauten Stimme.
»Wie heißt du?«
»Susan Walters.«
»Und was hast du dir gedacht, als du hergekommen bist?«
»Ich wollte ein Schauspiel sehen.«
»Ein Drama?«
»Ja.«
Der Tod lachte. »Wie ihr alle hier das Drama sehen wolltet! Ist es nicht so?«
Er hatte die Frage gestellt. Er hatte die Macht, und er sorgte dafür, das die Menschen reagierten, denn es gab keinen unter den Zuschauern, der nicht genickt hätte.
»So und nicht anders habe ich es haben wollen«, erklärte der Tod.
»Menschen sollen das Chaos erleben. Menschen sollen kennen lernen, wie es hinter der normalen Welt aussieht. Wo ich bin, ist das Chaos. Ob der Wahnsinn in Manhattan oder das Grauen in London. Ich liebe das Chaos, und ich werde es weitertragen, denn es besteht bereits seit Beginn der Zeiten…«
Er sagte nichts mehr.
Dafür schlug er noch einmal kräftig mit dem Stock auf. Es war genau das Zeichen für die erste Veränderung, denn zusammen mit Susan Walters drehte er sich um und ging davon. Beide drehten den Zuschauern den Rücken zu. Der Tod hielt die Hand der jungen Frau.
Sie gingen nach hinten auf den zerstörten Kopf der Freiheitsstatue zu. Dann hatten sie sie erreicht. Ihre Schritte hätten nun stocken müssen, aber sie schritten einfach weiter.
Eine Sekunde später waren sie weg.
Und keiner der Zuschauer reagierte. Alle saßen wie versteinert auf ihren Plätzen und erwachten erst aus ihrer Starre, als sich der breite Vorhang allmählich schloss…
***
»Das gibt es nicht«, sagte Suko.
»Was?« fragte ich von der Wohnzimmertür her, gegen deren Rahmen ich gelehnt stand.
»Diese Temperatur. Über dreißig Grad. Hinzu kommt die Schwüle, und an manchen Orten muss man auch mit starkem Regen rechnen. Soll ich mich darüber freuen?«
»Du bist doch sonst immer so gelassen.«
»Aber nicht heute.«
Ich grinste breit. »Oder sollte das vielleicht einen anderen Grund haben?«
»Ach, was meinst du denn damit?«
»Da wir den Rover nicht haben und du mit deinem BMW nicht fahren willst, muss ich davon ausgehen, dass es dich ärgert, wenn du mit der U-Bahn fährst, denn das ist bei diesem Wetter alles andere als ein Vergnügen.«
»Und du hast recht, John«, meldete sich Shao aus
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