1474 - Der Schnitter
recht schnell vorbei, denn sie hörten zugleich das Geräusch eines heranfahrenden Autos.
Zu sehen war das Fahrzeug nicht, weil hinter ihnen das Bootshaus stand, aber sie brauchten nur zur Seite zu schauen, um das Licht eines Scheinwerferpaars zu sehen, das seinen hellen Teppich über den Boden schickte.
Harry Stahl hatte es schon geahnt, jetzt sah er, dass der Wagen, der sich ihnen näherte, ein Mercedes war. Ein älteres Modell, ein breiter Schlitten, den sie bereits aus ihrem Urlaubsort kannten.
»Madam Rosa ist da, Dagmar!«
»Toll. Und jetzt?«
Der Wagen fuhr noch, und sie hatten Zeit, sich ein Versteck zu suchen. »Los, an die andere Seite der Hütte. Ich glaube nicht, dass sie noch weiterfahren.«
Der Wagen wurde gestoppt. Das Geräusch des Motors verstummte, und da standen sie bereits an der Seitenwand und somit im toten Winkel. Und durch Holz konnte auch eine Mama Rosa nicht schauen.
Türen schwangen auf. Sie hörten nur, wie sie wieder zuklappten.
Ab jetzt wurde es spannend. Zudem mussten sie auf ihr Glück vertrauen, dass sie nicht sofort entdeckt wurden, denn sie wollten hören, was Mama Rosa und ihre Begleiter vorhatten.
Zunächst vernahmen sie die Geräusche der Schritte. Das war möglich, weil an einigen Stellen das Gras verschwunden war und dafür eine Schicht aus kleinen Steinen auf dem Boden lag.
Die Schritte, auch die Stimmen. Zwei Frauen. Mama Rosa und die junge Sandrine Perrot. Sie sprachen zu leise, als dass etwas zu verstehen gewesen wäre, aber sie kamen rasch näher und standen dann vor der Uferseite des Bootshauses, von wo sie am besten die Wasserfläche bis hin zur Insel überschauen konnten.
Harry und Dagmar lugten um die Ecke. Wenn sie sich jetzt gezeigt hätten, wäre es die Überraschung gewesen, aber davon nahmen sie Abstand, denn sie wollten hören, was die beiden miteinander besprachen.
Beide sagten zunächst nichts. Sie schauten über das dunkle Wasser hinweg, als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen.
»Sie sehen das Licht auf der Insel«, murmelte Harry.
»Ja, und dann suchen sie den Schnitter.«
»Mal abwarten.«
Das brauchten sie nicht, und der Dialog in den folgenden Sekunden gab Dagmar Hansen recht. Deutlich war die Stimme von Mama Rosa zu hören, als sie sagte: »Er müsste es eigentlich geschafft haben.«
»Und dann?«
»Kommt er zurück.«
Sandrine schüttelte den Kopf. »Aber da waren unsere alten Bekannten bei Janine.«
»Na und? Glaubst du denn, dass sie den Schnitter aufhalten können? Nein, keiner kann das, meine Liebe. Er ist einmalig. Er lässt sich nicht aufhalten. Es geschieht nur das, was er will, darauf kannst du dich verlassen. Ich möchte den Menschen sehen, der ihn besiegt! Ich habe ihn groß gemacht. Das Bad im Bassin hat ihm noch mal eine gewisse Stärke gegeben. In ihm wohnt eine Kraft, die unbeschreiblich ist. Er allein wird uns an die Macht bringen, und die Menschen werden vor meinem Geschöpf zittern.«
Dagmar und Harry warfen sich einen bezeichnenden Blick zu. Sie brauchten beide nicht viel zu sagen, ein Kommentar war überflüssig, denn was sie gehört hatten, reichte aus.
»Sollen wir noch länger warten?« flüsterte Dagmar.
»Was hast du sonst vor?«
»Ihnen eine kleine Überraschung bereiten und sie ausschalten.«
Harry überlegte nicht lange. Ob das mit dem Ausschalten klappte, war fraglich, aber für Überraschungen war er immer zu haben. Er gab Dagmar ein Zeichen, holte noch mal tief Luft und ging einen Schritt nach vorn. Beim nächsten sprach er die beiden Frauen an.
»So sieht man sich also wieder, Mama Rosa…«
***
Auch wenn Mama Rosa die Praktiken des Voodoo beherrschte, war sie letztendlich doch nur ein Mensch mit allen Vor- und Nachteilen.
So wurde sie völlig überrascht und zuckte sogar zusammen, als sie ihren Namen hörte.
Sandrine stieß einen leisen Schrei aus, und beide fuhren gleichzeitig herum.
Harry und Dagmar hatten nicht die Beutewaffen der Leibwächter gezogen. Sie wollten nicht unbedingt Gewalt provozieren und erst mal testen, wie sich Mama Rosa und ihre Schülerin verhielten.
»Wir sind manchmal wie Leim und kleben fest«, sagte Harry Stahl, wobei er lächelte.
»Ja, das sehe ich.« Mama Rosa hatte sich wieder gefangen. »Ich finde es bemerkenswert, dass ihr euch in die Höhle des Löwen wagt, denn das hier ist unser Feld. Hier herrschen wir, hier haben wir unsere eigenen Gesetze, und wie wir mit unseren Feinden umgehen, das habt ihr doch schon selbst am eigenen Leib
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