1487 - Die Dämonen-Prinzessin
noch.«
»Was haben Sie denn erlebt?«
»Es ist sehr schlicht, aber effektvoll. Die Kinder sitzen im Halbdunkel, während Ophelia als Märchenprinzessin auf einem thron ähnlichen Stuhl ihren Platz einnimmt. Von dort aus liest sie dann vor, und das Licht fällt natürlich auf sie. Dabei trägt sie ein langes Kleid, das kostbar aussieht, und wenn man sie so betrachtet, dann erinnert sie wirklich an eine Prinzessin. Zumindest stellen sich die Kinder so eine Gestalt vor. Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
»Was haben Sie denn empfunden, als Sie das eine Mal dabei waren, Mrs. Quinn? Ich meine, Sie als Erwachsene.«
Lena brauchte nicht lange zu überlegen. »Das kann ich Ihnen genau sagen, Mr. Sinclair. Ich konnte mich ihrer Faszination nicht entziehen. Diese Frau hat es toll gemacht. Sie sprach mit einer Stimme, die sie entsprechend veränderte, wenn es der Text vorsah. Sie las nicht nur, sie lebte es den Kindern vor. Und genau das ist es, was sie faszinierte, aber nicht nur sie, denn auch ich wurde in ihren Bann gezogen. Alle hingen an ihren Lippen.«
»Verstehe«, murmelte ich und setzte zu einer nächsten Frage an.
»Was waren es denn für Märchen oder Geschichten? Gute, böse, schöne und…«
»Alles, Mr. Sinclair. Eine Mischung. Auch die bösen Geschichten gehörten dazu. Und ich will Ihnen sagen«, fügte sie mit kräftigerer Stimme hinzu, »es waren gerade die bösen Geschichten, die die Kinder so faszinierten. Dann hingen sie förmlich an den Lippen der Erzählerin. Zwar bekamen sie Angst, aber das machte ihnen offenbar nichts aus. Sie hörten gespannt zu und waren einfach nur hin und weg.«
»Dann kann ich davon ausgehen, dass die bösen Geschichten auch weniger gut ausgingen?«
»So ist es. Es gab keine Freude. Nicht wenige Kinder hat das erschüttert, und sie fingen auch an zu weinen. Beschwert hat sich aber niemand. Es gehört wohl dazu.«
»Ist Ihnen denn eine Geschichte in besonderer Erinnerung geblieben, Mrs. Quinn?«
Sie musste erst einmal nachdenken. »Ja, schon. Es war die letzte, und ich habe gehört, dass Ophelia sie immer erzählt. Es ging dabei um eine Dämonen-Prinzessin und um ihre böse Kraft, die, wenn sie auftrat, sich die Kinder holte und sie mitnahm in ihr Reich.«
»Wo lag das?«
»Das weiß keiner, aber es gibt das Reich. Davon bin ich jetzt überzeugt, Mr. Sinclair.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Weil wir es beide gesehen haben!« rief sie mit schriller Stimme.
»Ja, wir haben es beide gesehen. Nebenan im Zimmer. Das ist es gewesen. Ophelia hat auch die Prinzessin beschrieben, und sie hat sehr viel Ähnlichkeit mit ihr. Wahrscheinlich sind sie ein und dieselbe Person. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Alles klar.«
»Wirklich?«
»Für den Anfang.«
Intensiv schaute sie mir ins Gesicht. »Aber mein Sohn ist verschwunden, verdammt noch mal!« schrie sie. »Er ist weg, verstehen Sie? Nicht mehr da. Man hat ihn geholt. Ich will nicht darüber nachdenken, wohin er gegangen sein könnte, Mr. Sinclair, denn das würde mich wahnsinnig machen. Aber er ist nicht mehr da, und ich glaube nicht, dass er sich in Luft aufgelöst hat. Ich gehe davon aus, dass er bei ihr ist, und nur das allein zählt für mich. Alles andere nicht. Ich habe Sie gebeten, mir zu helfen, und jetzt müssen Sie sich etwas einfallen lassen.«
»Ich werde es versuchen.«
»Schön. Und wie?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich werde versuchen, einen Weg zu ihr zu finden.«
»Das hört sich an, als wäre es schon jetzt zu spät, Mr. Sinclair. Ich weiß nicht mehr, ob es gut war, Ihnen Bescheid zu geben. Ich weiß nur, dass mein Sohn bisher nicht verschwunden ist. Es trat erst ein, als Sie hier meine Wohnung betreten haben. Ich will Ihnen ja nichts Böses nachsagen, aber ist es verwunderlich, wenn ich so denke?«
»Sie meinen, dass mein Kommen für das Verschwinden Ihres Sohnes gesorgt hat?«
»So ist es.«
Ich enthielt mich einer Antwort. Nicht, weil ich keine wusste, aber ich musste erst nachdenken, und ich konnte mir vorstellen, dass Lena Quinn gar nicht mal so falsch lag. Ich hatte das Zimmer betreten. Ich war durch mein Kreuz gewarnt worden, und es konnte nicht von der Hand gewiesen werden, dass auch die andere Seite etwas bemerkt und Konsequenzen gezogen hatte.
»Sie sind sehr nachdenklich, Mr. Sinclair. Klopfen Sie sich jetzt an Ihre eigene Brust?«
»Ich denke nach.«
»Aber nicht zu lange. Ich will meinen Sohn zurück haben. Egal, wie das passiert«, sprach sie mit stockender Stimme.
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