1487 - Die Dämonen-Prinzessin
wollten. Und so ging er weiter, bis er zu einen alten Haus kam, das sehr schief gebaut war und einen Sturm nicht hätte überstehen können…«
Die Kinder hörten gebannt zu. Manche fürchteten sich und klammerten sich an ihrem Nachbarn fest. Das Dunkel um sie herum schüchterte sie ein, während Ophelia weiterhin mit interessanter Stimme berichtete, wie es um den kleinen Gerrit stand. Sie sprach so exakt, dass jeder Satz vorstellbar war, als hätte sie die Szenen mit flinken Fingern gemalt.
Keines der Kinder konnte sich der Faszination entziehen, und die Erwachsenen in den letzten Reihen spürten ebenfalls, dass hier eine besondere Erzählerin am Werk war.
Aber sie nahmen es anders auf als die Kinder. Nicht alle, nur zwei, drei Mütter. Doch stören wollten sie nicht. Nur an ihren Gesichtern war abzulesen, dass ihnen die Geschichte vom kleinen Gerrit nicht besonders gefiel.
»So etwas sollte man den Kindern nicht erzählen«, flüsterte jemand.
»Stimmt. Es ist unheimlich.«
»Märchen sind eben so.«
»Aber sie erschrecken die Kinder.«
»Später nicht mehr. Da können die Kids ihre Ängste abbauen. Glauben Sie mir. Ich habe mich damit beschäftigt.«
»Ich auch«, wurde gesagt. »Nur trifft das nicht bei allen zu. Ich habe hier ein verdammt ungutes Gefühl.«
»Wieso?«
»Dass bei dieser Erzählerin alles anders abläuft. Das hier ist keine normale Märchenstunde. Ich will nicht behaupten, dass es Horror ist, aber weit davon entfernt ist es auch nicht. Da könnt ihr sagen, was ihr wollt. Ich stehe dazu.«
»Was sollen wir denn tun?«
»Lasst sie weiter erzählen.«
»Okay. Aber wenn unsere Kinder Angst kriegen, dann greife ich ein.«
»Gut.«
Die Frauen schwiegen und lauschten, was ihnen die Prinzessin weiterhin zu sagen hatte.
»Und Gerrit, der vor dem Haus stehen geblieben war, spürte genau, dass es etwas Besonderes sein musste. Nicht, weil es so schief gebaut war und das Dach weit nach unten hing, nein, hier lief etwas anderes ab. Es lag hinter den geschlossenen Fenstern und der Tür versteckt. Da war ein großes Geheimnis verborgen.«
»Warum geht er nicht einfach hinein?« rief ein Junge in der ersten Reihe.
»Weil auch jemand wie Gerrit Angst hat.«
»Aber es hat ihm noch niemand etwas getan.«
Ophelia lächelte. »Gerrit überlegt noch, ob er hineingehen soll. Er schaut sich um. Er sieht überall Gesichter oder vielleicht bildet er sie sich nur ein. Es ist alles möglich in dieser Welt, in der er sich befindet. Alles…«
»Kann er denn nicht wieder weg?« rief ein Mädchen mit jämmerlich klingender Stimme.
»Vielleicht will er das gar nicht.«
»Aber du kennst die Geschichte doch.«
»Schon, aber ich weiß nicht, wie sie ausgeht. Es kann vieles passieren. Gerrit ist wirklich mutig. Ich weiß nicht, ob es unter euch einen gibt, der ebenso mutig ist.«
Da schwiegen die jungen Zuhörer.
Ein Kind hatte nachgedacht und fragte: »Aber du kennst die Märchen doch alle. Wieso weiß du nicht, wie es weitergeht? Das kann ich nicht verstehen.«
»Weil die Geschichte von Gerrit etwas Besonderes ist, meine kleinen Freunde.«
»Wieso denn?«
»Vielleicht ist es gar kein Märchen. Kann es nicht sein, dass es Gerrit wirklich gibt? Glaubt ihr nicht, dass sich die Wirklichkeit und die Märchen oft überschneiden? Würdet ihr euch nicht wundern, wenn ihr Gerrit plötzlich hier seht? Wäre dann aus einem Märchen nicht Wirklichkeit geworden? Wäre es nicht spannend, wenn ihr dem kleinen Gerrit die Hand schütteln könntet?«
Fragen wie diese machten die Kinder sprachlos. Da war keines in der Lage, eine Antwort zu geben, aber jedes spürte, dass diese Märchenstunde anders verlief.
In den hinteren Reihen wurde es einer Mutter zu viel. Sie regte sich auf und behielt ihren Ärger nicht mehr bei sich. »Was soll das eigentlich?« rief sie mit lauter Stimme über die Köpfe der Kinder hinweg. »Sind das, was Sie da erzählen, Märchen? So kenne ich das nicht. Und es hat sich in den Jahren nichts geändert.«
»Bei mir schon«, erwiderte Ophelia. »Ich bin andere Wege gegangen, und ich habe Erfolg.«
»Ja, aber Sie machen den Kindern Angst. Sie erzählen da Dinge, die unsere Kids als wahr ansehen. Das sind dann keine Märchen mehr, das ist der pure Realismus.«
»Und wenn schon, Madam. Irgendwo gib es immer Schnittstellen. Hat man Ihnen nicht gesagt, dass in den Märchen viel Wahrheit steckt? Dass sie die andere Seite des Lebens wiedergeben? Dass viele gar nicht erfunden sind, dass man ihren
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