15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan
noch klein war, da kam ein alter Mann in unsere Hütte und bat um Herberge. Er bekam ein Lager und Milch und Brot. Mehr hatten wir selbst nicht. Ich hatte etwas getan, was die Mutter erzürnte. Da nahm der alte Gast einen Zettel hervor und einen Bleistift. Er war ein römischer Katholik, und obgleich er die türkische Sprache nicht verstand, schrieb er mir einen Vers aus Ihrer Bibel auf, welches die heilige Schrift der Christen ist, und sagte mir, daß ich diese Worte auswendig lernen und stets befolgen und nie wieder vergessen solle. Ich habe diesen Zettel als Amulett bei mir getragen, bis er in Fetzen ging. Er ist zerrissen und verschwunden; aber die Worte sind mir im Gedächtnis und im Herzen geblieben bis auf den heutigen Tag und werden auch da bleiben, bis der Engel des Todes zum großen Abschied ruft.“
Ich war tief gerührt und fragte den Sahaf, dessen Augen feucht geworden waren:
„Wie lauten diese Worte?“
„Sie lauten: Bir göz zewklen-ar babaji, bir göz itaatetmez, kargalar onu kazar-lar yrmak jakinda, gendsch kartalar onu jutar-lar.“
Das waren die Bibelworte: ‚Ein Auge, welches den Vater verspottet und sich weigert, der Mutter zu gehorchen, das werden die Raben am Bache aushacken und die jungen Adler fressen.‘
Wieder ein Beispiel von der unwiderstehlichen Macht des göttlichen Wortes, welches wirkt, wie ‚ein Hammer, der Felsen zerschmettert‘. Wo hat der Koran, wo haben die Vedas und wo hat (man verzeihe!) die Offenbarung der ‚letzten Heiligen‘, ich meine das Machwerk jenes Joe Smith, welches er book of the Mormons nannte, eine Stelle von so gewaltiger, unmittelbarer Wirkung aufzuweisen? Man lese das Gold-Glanz-Buch, welches Buddhas Lehren über sich, über Buße, Pflicht und das Ende der Dinge enthält; man vertiefe sich mittels eines entsetzlichen Studiums in die heiligen Bücher Indiens, in die Papyrus Ägyptens mit ihren Ptah-, Re- und Amon-Reminiszenzen – – – es gibt doch nur das eine Gotteswort, von dem es so lieblich heißt: ‚Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege‘, und dessen strafende, vernichtende Macht doch auch nicht erschütternder geschildert werden kann, als in der fürchterlichen Stelle: ‚Und er wurde zu Stein!‘
Ich reichte dem Uhrmacher-Buchhändler die Hand und fragte ihn:
„So lieben Sie also Ihren Vater?“
„Herr, warum fragen Sie? Kann es einen Sohn geben, welcher seinen Vater nicht liebt? Kann ein Kind seiner Eltern vergessen, denen es alles, alles zu verdanken hat?“
„Sie haben recht; meine Frage war gänzlich überflüssig. Vielleicht bekomme ich Ihren Vater zu sehen, und dann werde ich ihm ebenso einen Vers aufschreiben, wie der alte römische Katholik Ihnen aufgeschrieben hat. Und geht der Wunsch, den ich jetzt im stillen hege, in Erfüllung, so ist es mir wohl möglich, ihm und Ihnen außerdem eine recht große Freude zu machen. Bleiben Sie daheim, damit ich Sie finde, wenn ich komme! Allah jusellimak – Gott behüte Sie!“
„Fi aman Allah – in Gottes Schutz!“ antwortete er, indem er meine ihm dargebotene Hand an seine Stirn drückte.
Da nahm er sein Pferd ‚al el meimene‘ – zur rechten Hand und ritt im Trab davon.
Ich blickte ihm nach, bis er hinter fernem Strauchwerk verschwunden war, und setzte dann meinen Weg fort. Ich war noch nicht weit geritten, so sah ich etwas auf der Erde liegen, was ich an diesem Ort nicht gesucht hätte, nämlich eine richtige, wirkliche, echte und wahrhaftige Semmel, eine braune und knusprig gebackene Zeile von acht, sage acht Semmeln.
Dieses Backwerk ist von uns nach der Türkei gebracht worden, weshalb es dort vorzugsweise Frandschela, ‚die Fränkische‘, genannt wird.
Ich stieg vom Pferd und hob die Semmel auf, eine neubacken duftende Reminiszenz an die Heimat. Was mit der Achterzeile tun? Ohne mir darüber klar zu sein, brach ich ein Eckchen ab und – hielt es meinem Rappen hin. Er hatte so etwas noch nie gesehen; aber das verursachte ihm keine Skrupel. Ob Chaß etmek oder Frandschela, ob auf Deutsch Semmel oder auf Englisch roll, ob auf Französisch pain blanc oder im Italienischen piccoli pani, ob in polnischer Sprache bulka und pszenna und in serbischer pletenitza, ob auf Walachisch pune albeh oder auf Russisch bulka, grad wie auch in Ostpolen – der Rappe hatte weder sprachliche noch andere Bedenken; er prüfte mit der Nase, nahm das Eckchen und riß mir sodann die ganze übrige Zeile aus der Hand.
„Ma li hadsche fih, sufra daime, tajib
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