1510 - Der Hexenbrunnen
Cavallo war kein Mensch, und genau das wollte sie auch ausnutzen. Blut getrunken hatte sie im Steinbruch. Sie musste nicht irgendwo anhalten und sich ein Opfer suchen, das sie anschließend erlösen musste, denn auch sie wollte nicht, dass sich die Vampirbrut ausbreitete. Er reichte, wenn es sie gab und sie nur ab und zu auf ihre Artgenossen traf, was oftmals durch John Sinclair und Suko bedingt war.
Wenn es ein Verhältnis zwischen ihnen gab, dann war es schon recht gespannt. Das Schicksal hatte sie zusammengebracht, aber als eine Partnerin wurde Justine nie akzeptiert. Doch andere Zwänge hielten sie zusammen. Hinzu kam, dass sie sich gegenseitig einige Male das Leben gerettet hatten. Zuletzt wieder im Steinbruch, und da waren Justine Cavallo Grenzen aufgezeigt worden.
Darüber kam sie nicht hinweg. Die Erinnerung daran hatte ihr auch der Fahrtwind nicht aus dem Kopf blasen können, und ihren Frust darüber schrie sie des Öfteren hinaus. Dann mischten sich die Schreie mit dem Lärm des Motors.
Weg von der breiten Straße!
Dieses Ziel erreichte sie nach einer knappen halben Stunde. Den Weg bis zur Brücke zum Festland wollte sie auf kurvenreichen Strecken fahren, was ihre Fahrkünste schulen würde. Darauf freute sie sich schon, denn um diese Zeit waren die Straßen in einer einsamen Gegend wie dieser hier leer.
Um sie herum gab es nur Natur. Wälder, große Wiesenflächen, hin und wieder ein kleines Gewässer, das alles gehörte dazu. Kein Ort musste von ihr durchfahren werden. Manchmal sah sie in der Ferne ein paar Lichter.
Erneut lag eine Kurve vor ihr, die sie an ein in die Länge gezogenes S erinnerte. Der helle Lichtbalken des Scheinwerfers stach in sie hinein, fuhr über die ebenen Grasflächen rechts und links der Fahrbahn hinweg und erreichte auch den Wald, der sich vor ihr ausbreitete. Er sah aus wie eine finstere Wand, die bereit war, die Straße zu verschlucken, aber es gab eine Öffnung, die die Straße aufnahm.
Justine fuhr hinein. Sie gab noch mal Gas, denn sie hatte erkannt, dass keine Kurve vor ihr lag.
So schoss sie in die Dunkelheit des Waldes hinein. Geduckt hockte sie auf dem roten Feuerstuhl. Der Lärm des Motors breitete sich nicht mehr als Echos aus, weil der Wald ihn schluckte.
Das Scheinwerferlicht sorgte für eine gespenstische Atmosphäre, die sich immer mehr verengte oder verdichtete, weil die Bäume und das Unterholz näher an die Ränder der Fahrbahn heranwuchsen.
Die Vampirin gab noch mal Gas!
Die BMW ruckte vor. Und plötzlich stieg sie mit ihrem Vorderrad in die Höhe, weil Justine einfach zu schnell geworden war. Aber sie bekam ihr Fahrzeug wieder in den Griff und fuhr normal weiter, wobei das auch recht schnell war.
Gleich darauf erkannte sie, dass die gerade Strecke ihr Ende erreicht hatte.
Eine Linkskurve tat sich vor ihr auf. Sie war sogar recht eng, und so musste Justine das Tempo verringern. Auch sie ging nur bis zu einer gewissen Grenze, denn sie wollte nicht irgendwo im Unterholz landen.
Justine richtete sich ein wenig auf. Bei dieser Kurve musste sie nicht zu schräg mit dem Feuerstuhl liegen. Es gab hier keine Hindernisse auf der Straße, keine durch den Sturm abgerissenen Äste und Zweige.
Dafür etwas anderes.
Was in den nächsten zwei, drei Sekunden passierte, erlebte sie wie im Zeitlupentempo. Über der Fahrbahn glitzerte etwas in einer gewissen Höhe. Es spannte sich von recht nach links, ein fremdes Hindernis, ein im Scheinwerferlicht blinkendes straffes Seil, und zugleich eine tödliche Falle.
Hinter dem Visier verzerrte sich das Gesicht der Blutsaugerin. Sie sah keine Möglichkeit mehr, dem Hindernis auszuweichen. Ein Schlenker nach links oder rechts hätte sie in den Wald hineingeschleudert. Das wäre zumindest das Ende der BMW gewesen. Über sich selbst machte sie sich da weniger Gedanken.
Abbremsen! Tempo wegnehmen!
An nichts anderes dachte sie in diesen schrecklichen Augenblicken und hörte, wie die Reifen plötzlich zu kreischen begannen, als sie über dem Asphalt hinwegschrammten.
Sie war langsamer geworden. Sie duckte sich auch, aber das Seil war verdammt tief gespannt.
Und so wurde auch Justine Cavallo erwischt!
In den folgenden Sekunden veränderte sich alles. Die Blutsaugerin wurde von einer nicht mehr zu kontrollierenden Kraft von der Maschine katapultiert, ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte. Es war ihr nicht möglich, im Sattel zu bleiben. Es riss sie einfach weg, als die BMW aus ihrer Vorwärtsbewegung abrupt
Weitere Kostenlose Bücher