1526 - Mirandas Schutzengel
das sie nicht verstand und begriff.
Der Tod hatte sie angesprochen. Oder die Tote?
»Ich bin bei dir, Miranda, auch wenn du mich hier auf dem Totenbett liegen siehst. Dennoch habe ich dich nicht im Stich gelassen. Ich werde dafür sorgen, dass du immer geschützt bist. Ich passe aus dem Jenseits auf dich auf, mein Kind.«
Miranda hatte schwer zu schlucken, als sie die geflüsterten Worte vernahm. Kalt rieselte es ihren Rücken hinab, und sie bewegte nur die Augen, weil sie etwas sehen wollte. Irgendeinen Hinweis auf die Stimme, die einfach da war und tatsächlich der Mutter gehörte. Sie sah nichts.
Miranda hob ihre Schultern an und flüsterte: »Aber du bist tot, Mama. Du kannst nicht reden und…«
»Ich bin bei dir, mein Kind. Ich habe es dir doch gesagt. Ich lasse dich nicht allein.«
Miranda konnte nichts sagen. Sie wollte es, doch sie gab nur unverständliche Geräusche ab, die sich anhörten wie ein verzweifelt klingendes Schluchzen. Das war alles.
»Bitte, Mama, was ist denn wirklich geschehen? Willst du mir das nicht sagen?«
»Geh deinen Weg, mein Kind, und denke immer daran, dass du Helfer hast, die dich beschützen werden. Ich habe im Leben eine Aufgabe übernommen, von der ich mich auch im Tod nicht lösen werde. Das ist ein Versprechen, mein Kind.«
»Ja, ich habe es gehört.«
»Und jetzt geh. Begib dich zu den Menschen, denn da gehörst du hin und nicht zu den Toten. Ich komme schon zurecht, denn dort, wo ich bereits bin, ist es wunderschön.«
»Wo bist du denn?« Die Frage war ihr einfach so herausgerutscht.
»In einer anderen Welt und auf dem Weg dorthin, wonach ich mich gesehnt habe. Ich kann und darf es dir nicht sagen, aber irgendwann wirst du es selbst erleben.«
Miranda nickte. Sie wusste auch, dass es die letzten Worte gewesen waren, die sie von ihrer Mutter gehört hatte, und sie drehte sich mit einer langsamen Bewegung um, um erneut den Weg zur Tür zu gehen. Die Hand lag bereits auf der Klinke, als sie sich noch mal umwandte und einen Blick auf die Tote warf.
Hatte sie sich verändert?
Es hätte nicht sein können, und trotzdem hatte sie das Gefühl, dass sich die Lippen der Toten zu einem Lächeln verzogen hatten.
»Ja, wir sehen uns wieder«, flüsterte Miranda und verließ das Sterbezimmer.
Den anderen Verwandten würde sie nichts von ihrem Erlebnis erzählen.
Es sollte ihr Geheimnis bleiben…
***
Elisa Zanussis Beerdigung war zwar kein Medienereignis, aber es hatten sich doch zahlreiche Menschen versammelt, um sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten.
Ein Meer aus Kränzen und Blumen lag um das offene Grab verteilt. Es flössen viele Tränen. Verwandte aus Italien waren angereist, die Stammgäste aus dem Lokal wollten ihr die letzte Ehre erweisen. Ein Geiger spielte ihr Lieblingslied »O sole mio«, und dabei flössen noch mehr Tränen.
Miranda stand in der ersten Reihe. So bekam sie alles genau mit. Sie hörte auch die Worte des Pfarrers, nur gingen sie an ihr vorbei, denn ihre Gedanken waren zwar bei der Toten, aber trotzdem woanders, denn sie konnte nicht vergessen, was ihr gesagt worden war.
Es gab Elisa noch. Es gab sie irgendwo. An einem Ort, der für lebende Menschen nicht erreichbar war, und Miranda konnte sich vorstellen, dass ihre Mutter jetzt der eigenen Beerdigung zuschaute und sich die dort versammelten Menschen ansah.
Auch Bruno, ihr Bruder, hielt eine kurze Rede. Seine Schwester war nicht nur die gute Seele des Familienunternehmens gewesen, sondern auch Teilhaberin. Sie hatte ihr ganzes Geld in das Lokal gesteckt. Ihren Anteil würde Miranda erben.
Alles ging seinen Gang. Ein großer Trauerflor schien über der ganzen Gemeinde zu liegen, und selbst die Vögel hatten ihren Gesang eingestellt. Auch die Wolkendecke riss auf und die Sonne schickte ihre Strahlen über das Gräberfeld hinweg, als der Sarg in die Tiefe gelassen wurde.
Dabei kam es wieder zu einem emotionalen Ausbruch eines Teils der Trauergäste, doch Miranda schaffte es nicht, Tränen zu vergießen. Sie war froh, dass es niemand sah, denn ihr Gesicht war unter einem Schleier verborgen.
Sie musste immer daran denken, was ihr Elisa mitgeteilt hatte. Es war so fremd und anders, nicht zu begreifen, und trotzdem war es ihr nicht möglich, das Gehörte aus ihrem Gehirn zu verbannen.
Bald danach begann das Kondolieren. Miranda hasste es, aber es war nun mal so üblich. Jeder wollte seine Trauer und Anteilnahme zeigen, und jeder warf eine rote Rose in das Grab.
Die nahen Verwandten waren
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