1526 - Mirandas Schutzengel
Wie von selbst rannen die Tränen aus ihren Augen. Sie schluchzte dabei, und ihre Schultern zuckten in unregelmäßigen Abständen. Ihre Wangen wurden nass und das Gesicht der Toten verschwamm immer mehr vor ihren Augen.
Dass es im Totenzimmer stickig und die Luft zum Schneiden dick war, merkte Miranda nicht. Sie kam sich verloren vor, als hätte sie auf dieser Welt nichts mehr zu suchen.
Genau das stimmte nicht. Es gab noch Aufgaben für sie. Sie musste das für ihre Mutter tun, was schon die Vorfahren getan hatten. Sie ankleiden, schön machen für den Sarg. Das war wichtig, denn einige Menschen würden ihr noch die letzte Ehre erweisen wollen, und da durfte sie nicht so aussehen wie jetzt. In ein altes, fleckiges Nachthemd gehüllt und unter der Decke verborgen.
Sie drehte sich von der Leiche weg, holte ein Taschentuch hervor, putzte sich die Nase und wischte die Tränenflüssigkeit aus ihrem Gesicht.
Danach nickte sie, als wollte sie den Tod ihrer Mutter bestätigen.
Elisa war mehr als achtzig Jahre alt geworden, dann war der Krebs stärker gewesen. Schon einige Male hatte sie kurz davor gestanden, ihr Leben aufzugeben, doch sie hatte sich immer wieder erholt und war dem Gevatter Tod aus den Armen geglitten, wie sie selbst gesagt hatte.
Und sie hatte danach immer wieder so seltsam gesprochen. Nur Miranda hatte sie gewisse Dinge erzählt, über die die blondhaarige Frau des Öfteren nachgedacht hatte.
Nach dem Tod sollte sie sich keine Sorgen machen. Sie würde nicht allein sein. Es würde immer jemand in ihrer Nähe wachen, auch wenn es nicht die Mutter war.
Diese Erklärungen waren ihr seltsam vorgekommen, und sie hatte mehrmals nachgefragt. Aber Elisa hatte nur den Kopf geschüttelt und geschwiegen.
Dabei war Elisa nicht ihre richtige Mutter. Sie wäre viel zu alt für die Fünfundzwanzigjährige gewesen. Miranda war ein Adoptivkind. Elisa Zanussi hatte sie aus einem Heim geholt, aber Miranda hatte die Frau stets als ihre Mutter angesehen. Ihre wahren Eltern kannte sie nicht, und sie hatte sich auch nie bemüht, sie kennen zu lernen. Eine so tolle Frau wie Elisa als Mutter reichte ihr. Beide waren ein Herz und eine Seele gewesen, umso schwerer fiel ihr jetzt Elisas Tod.
Miranda wusste genau, was sie zu tun hatte. Sie trat an den Kleiderschrank und öffnete beide Türen. Auf den Bügeln an der Stange hingen die Kleidungsstücke der Verstorbenen. Blusen, Kleider und Mäntel.
Miranda konzentrierte sich auf die Kleider. Es gab einige, die Elisa gern getragen hatte, und so schaute sie über die hinweg, die sie so geliebt hatte.
Ein schwarzes Kleid mit weißen Tupfen schwang ihr förmlich entgegen, als wollte es sich von allein empfehlen. Elisa lächelte. In ihren Augen stand ein Glanz, der ihre Zufriedenheit ausdrückte.
Ja, das war es doch. Genau so ein Kleid musste es sein. Es war unmodern, aber Elisa hatte es immer sehr gern getragen, allerdings nur an Sonntagen und zu besonderen Anlässen. Jetzt war so ein Anlass.
Sie holte es aus dem Schrank, strich es noch glatt, nahm es vom Bügel und hängte es über einen Stuhl. Danach trat sie an das Bett heran. Sie schlug die Decke zurück und sah die knochige Gestalt, die sich unter dem Laken abzeichnete.
Was folgte, war eine schwere Aufgabe, doch sie durfte sich davor nicht drücken. Zu viel Gutes hatte Elisa ihr während ihres Lebens gegeben.
Ohne ihre Adoptivmutter wäre sie ein Nichts gewesen.
Und so begann sie die Tote zu entkleiden, um ihr danach das Kleid mit den weißen Tupfen anzuziehen. Sie weinte dabei. Sie betete auch, und ihre Worte wurden immer wieder von schluchzenden Lauten unterbrochen.
Obwohl sie sich auf die Arbeit konzentrierte, Schossen andere Gedanken durch ihren Kopf. Da liefen viele Stationen ihres Lebens vor ihrem geistigen Auge ab, und immer wieder spielte dabei Elisa eine Rolle.
Sie war der Zielpunkt im Leben der Elisa Zanussi gewesen. Elisa hatte ihr alles beigebracht und dafür gesorgt, dass sich Miranda emanzipierte und sich von niemandem etwas sagen ließ. Auch von den Kerlen nicht.
Verheiratet war Elisa nie gewesen. Aber sie hatte ein Kind angenommen.
Das war für sie das höchste Glück gewesen.
Das Lokal gehörte ihrem viel jüngeren Bruder Bruno, der gerade mal sein zweiundsechzigstes Lebensjahr erreicht hatte. Er würde den Laden auch ohne Elisa weiterführen, denn sein Lokal »Da Bruno« war bekannt für seine gute Küche.
Auch Miranda war eingespannt. Sie arbeitete als Einkäuferin und half bei Hochbetrieb im
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